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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich
könnte mich darüber nicht trösten und müßte
mich selbst der Frivolität zeihen, wenn ich nicht
annehmen müßte, daß jene verblümte und naiv
spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völli¬
gen Geistesfreiheit gewesen sei, die ich mir endlich
erworben habe!"

Dortchen hatte das Buch inzwischen auch in
die Hand genommen und darin geblättert. "Wis¬
sen Sie, Herr Lee," sagte sie und sah ihn freund¬
lich an, "daß es mir sehr wohl gefällt, wie Sie
ein so richtiges ernstes und ehrbares Gefühl ha¬
ben auch für den Gott, den Andere glauben?
Dies ist sehr hübsch von Ihnen! Aber Himmel!
welch' ein schöner Vers ist dies hier:

Blüh' auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Thür:
Du bleibest ewig todt, blühst du nicht jetzt und hier.

Sie sprang an's Clavier und spielte und sang
aus dem Stegreif diese sehnsüchtig lockenden
Worte, in geistlich choralartigen Maßen und
Tonfällen, doch mit einem wie verliebt zitternden
durchaus weltlichen Ausdruck ihrer schönen Stimme.


lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich
koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte
mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht
annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv
ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬
gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich
erworben habe!«

Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in
die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬
ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬
lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie
ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬
ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben?
Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel!
welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier:

Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:
Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier.

Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang
aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden
Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und
Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden
durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.


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[397/0407] lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬ gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich erworben habe!« Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬ ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬ lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬ ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben? Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel! welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier: Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr: Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier. Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/407>, abgerufen am 28.03.2024.