Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

welche ihren Lohn dahin haben und abziehen
mußten, wie sie sagt, schmückt sie die Gräber,
und es vergeht kein Tag, an welchem sie nicht
eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieser
ist ihr Lustgarten, ihre Universität, ihr Schmoll¬
winkel und ihr Putzzimmer, und bald kehrt sie
fröhlich und übermüthig, bald still und traurig
wieder zurück."

"Glaubt sie denn auch nicht an Gott?"
fragte Heinrich.

"Schulgerecht," erwiederte sein Freund, "sind
beide Fragen unzertrennlich, jedoch macht sie sich
nichts aus der Schule und sagt nur: Ach Gott!
es ist ja recht wohl möglich, daß Gott ist, aber
was kann ich ärmstes Ding davon wissen? Wenn
wir unsere Nase in Alles stecken müßten, so wäre
jedem von uns eine deutliche Anweisung gegeben.
Ich gönne jedem Menschen seinen guten Glauben
und mir mein gutes Gewissen!"

Obgleich Heinrich seinen lieben Gott, zwar
etwas eingeschlummert, immer noch im Gemüthe
trug, so gefiel ihm doch dies alles, was er von
Dorothea hörte, ausnehmend wohl, weil sie es

welche ihren Lohn dahin haben und abziehen
mußten, wie ſie ſagt, ſchmuͤckt ſie die Graͤber,
und es vergeht kein Tag, an welchem ſie nicht
eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieſer
iſt ihr Luſtgarten, ihre Univerſitaͤt, ihr Schmoll¬
winkel und ihr Putzzimmer, und bald kehrt ſie
froͤhlich und uͤbermuͤthig, bald ſtill und traurig
wieder zuruͤck.«

»Glaubt ſie denn auch nicht an Gott?«
fragte Heinrich.

»Schulgerecht,« erwiederte ſein Freund, »ſind
beide Fragen unzertrennlich, jedoch macht ſie ſich
nichts aus der Schule und ſagt nur: Ach Gott!
es iſt ja recht wohl moͤglich, daß Gott iſt, aber
was kann ich aͤrmſtes Ding davon wiſſen? Wenn
wir unſere Naſe in Alles ſtecken muͤßten, ſo waͤre
jedem von uns eine deutliche Anweiſung gegeben.
Ich goͤnne jedem Menſchen ſeinen guten Glauben
und mir mein gutes Gewiſſen!«

Obgleich Heinrich ſeinen lieben Gott, zwar
etwas eingeſchlummert, immer noch im Gemuͤthe
trug, ſo gefiel ihm doch dies alles, was er von
Dorothea hoͤrte, ausnehmend wohl, weil ſie es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0393" n="383"/>
welche ihren Lohn dahin haben und abziehen<lb/>
mußten, wie &#x017F;ie &#x017F;agt, &#x017F;chmu&#x0364;ckt &#x017F;ie die Gra&#x0364;ber,<lb/>
und es vergeht kein Tag, an welchem &#x017F;ie nicht<lb/>
eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Die&#x017F;er<lb/>
i&#x017F;t ihr Lu&#x017F;tgarten, ihre Univer&#x017F;ita&#x0364;t, ihr Schmoll¬<lb/>
winkel und ihr Putzzimmer, und bald kehrt &#x017F;ie<lb/>
fro&#x0364;hlich und u&#x0364;bermu&#x0364;thig, bald &#x017F;till und traurig<lb/>
wieder zuru&#x0364;ck.«</p><lb/>
        <p>»Glaubt &#x017F;ie denn auch nicht an Gott?«<lb/>
fragte Heinrich.</p><lb/>
        <p>»Schulgerecht,« erwiederte &#x017F;ein Freund, »&#x017F;ind<lb/>
beide Fragen unzertrennlich, jedoch macht &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nichts aus der Schule und &#x017F;agt nur: Ach Gott!<lb/>
es i&#x017F;t ja recht wohl mo&#x0364;glich, daß Gott i&#x017F;t, aber<lb/>
was kann ich a&#x0364;rm&#x017F;tes Ding davon wi&#x017F;&#x017F;en? Wenn<lb/>
wir un&#x017F;ere Na&#x017F;e in Alles &#x017F;tecken mu&#x0364;ßten, &#x017F;o wa&#x0364;re<lb/>
jedem von uns eine deutliche Anwei&#x017F;ung gegeben.<lb/>
Ich go&#x0364;nne jedem Men&#x017F;chen &#x017F;einen guten Glauben<lb/>
und mir mein gutes Gewi&#x017F;&#x017F;en!«</p><lb/>
        <p>Obgleich Heinrich &#x017F;einen lieben Gott, zwar<lb/>
etwas einge&#x017F;chlummert, immer noch im Gemu&#x0364;the<lb/>
trug, &#x017F;o gefiel ihm doch dies alles, was er von<lb/>
Dorothea ho&#x0364;rte, ausnehmend wohl, weil &#x017F;ie es<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0393] welche ihren Lohn dahin haben und abziehen mußten, wie ſie ſagt, ſchmuͤckt ſie die Graͤber, und es vergeht kein Tag, an welchem ſie nicht eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieſer iſt ihr Luſtgarten, ihre Univerſitaͤt, ihr Schmoll¬ winkel und ihr Putzzimmer, und bald kehrt ſie froͤhlich und uͤbermuͤthig, bald ſtill und traurig wieder zuruͤck.« »Glaubt ſie denn auch nicht an Gott?« fragte Heinrich. »Schulgerecht,« erwiederte ſein Freund, »ſind beide Fragen unzertrennlich, jedoch macht ſie ſich nichts aus der Schule und ſagt nur: Ach Gott! es iſt ja recht wohl moͤglich, daß Gott iſt, aber was kann ich aͤrmſtes Ding davon wiſſen? Wenn wir unſere Naſe in Alles ſtecken muͤßten, ſo waͤre jedem von uns eine deutliche Anweiſung gegeben. Ich goͤnne jedem Menſchen ſeinen guten Glauben und mir mein gutes Gewiſſen!« Obgleich Heinrich ſeinen lieben Gott, zwar etwas eingeſchlummert, immer noch im Gemuͤthe trug, ſo gefiel ihm doch dies alles, was er von Dorothea hoͤrte, ausnehmend wohl, weil ſie es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/393
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/393>, abgerufen am 24.04.2024.