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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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lich, ob er etwa wirklich verliebt sei? Es war
lange her, seit er dies gewesen, aber dennoch
glaubte er aus dem Grunde zu wissen, was Liebe
sei, und hielt seine aufgeschriebenen Knabengeschich¬
ten noch immer für Meisterwerke leidenschaftli¬
cher Erlebnisse. Und dennoch konnte er sich jetzo
nicht entsinnen, auch nur ein einziges Mal etwa
nicht geschlafen zu haben während jener Geschich¬
ten und war ganz verblüfft, erst jetzt ein ihm bis¬
her unbekanntes Gefühl seinen Rumor beginnen
zu sehen, welches ganz anders in's Zeug und in
die Tiefe zu gehen schien, als alle jene Verwir¬
rungen und Anfängerstückchen. Eine frohe Ban¬
gigkeit durchschauerte ihn, Furcht und Lust zu¬
gleich, sich selbst zu verlieren und so gefährliche
Dinge schienen sich da ankündigen zu wollen,
daß er doppelt beschloß, sich am anderen Tage
zu flüchten.

Aber als er in der Frühe geweckt wurde und
ein Wagen schon im Hofe stand, während der
Graf und Heinrich das Frühstück nahmen, war
es ihm nicht möglich, mit einem Worte seines Ent¬
schlusses zu erwähnen, ja er dachte kaum noch dar¬

lich, ob er etwa wirklich verliebt ſei? Es war
lange her, ſeit er dies geweſen, aber dennoch
glaubte er aus dem Grunde zu wiſſen, was Liebe
ſei, und hielt ſeine aufgeſchriebenen Knabengeſchich¬
ten noch immer fuͤr Meiſterwerke leidenſchaftli¬
cher Erlebniſſe. Und dennoch konnte er ſich jetzo
nicht entſinnen, auch nur ein einziges Mal etwa
nicht geſchlafen zu haben waͤhrend jener Geſchich¬
ten und war ganz verbluͤfft, erſt jetzt ein ihm bis¬
her unbekanntes Gefuͤhl ſeinen Rumor beginnen
zu ſehen, welches ganz anders in's Zeug und in
die Tiefe zu gehen ſchien, als alle jene Verwir¬
rungen und Anfaͤngerſtuͤckchen. Eine frohe Ban¬
gigkeit durchſchauerte ihn, Furcht und Luſt zu¬
gleich, ſich ſelbſt zu verlieren und ſo gefaͤhrliche
Dinge ſchienen ſich da ankuͤndigen zu wollen,
daß er doppelt beſchloß, ſich am anderen Tage
zu fluͤchten.

Aber als er in der Fruͤhe geweckt wurde und
ein Wagen ſchon im Hofe ſtand, waͤhrend der
Graf und Heinrich das Fruͤhſtuͤck nahmen, war
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ſchluſſes zu erwaͤhnen, ja er dachte kaum noch dar¬

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[365/0375] lich, ob er etwa wirklich verliebt ſei? Es war lange her, ſeit er dies geweſen, aber dennoch glaubte er aus dem Grunde zu wiſſen, was Liebe ſei, und hielt ſeine aufgeſchriebenen Knabengeſchich¬ ten noch immer fuͤr Meiſterwerke leidenſchaftli¬ cher Erlebniſſe. Und dennoch konnte er ſich jetzo nicht entſinnen, auch nur ein einziges Mal etwa nicht geſchlafen zu haben waͤhrend jener Geſchich¬ ten und war ganz verbluͤfft, erſt jetzt ein ihm bis¬ her unbekanntes Gefuͤhl ſeinen Rumor beginnen zu ſehen, welches ganz anders in's Zeug und in die Tiefe zu gehen ſchien, als alle jene Verwir¬ rungen und Anfaͤngerſtuͤckchen. Eine frohe Ban¬ gigkeit durchſchauerte ihn, Furcht und Luſt zu¬ gleich, ſich ſelbſt zu verlieren und ſo gefaͤhrliche Dinge ſchienen ſich da ankuͤndigen zu wollen, daß er doppelt beſchloß, ſich am anderen Tage zu fluͤchten. Aber als er in der Fruͤhe geweckt wurde und ein Wagen ſchon im Hofe ſtand, waͤhrend der Graf und Heinrich das Fruͤhſtuͤck nahmen, war es ihm nicht moͤglich, mit einem Worte ſeines Ent¬ ſchluſſes zu erwaͤhnen, ja er dachte kaum noch dar¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/375>, abgerufen am 28.03.2024.