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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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getrost auf den Arm und ging nach dem nächsten
Dorfe, um Nachfrage zu halten. Das Kind ge¬
hörte nicht in das Dorf, noch in die Gegend
überhaupt; hingegen erfuhr ich, daß im Laufe
des Nachmittages eine Schaar Auswanderer
durchgezogen mit Weib und Kindern, die nach
dem südlichen Rußland gingen und sich etwas
weiter unten am Flusse den folgenden Morgen
einschiffen wollten. Ich gab das Kind nicht aus
den Händen, blieb in dem Dorfe über Nacht
und begab mich mit dem Morgengrauen nach
der bezeichneten Stelle, wo ich den Trupp schon
im Begriffe fand zu Schiffe zu gehen. Es fand
sich, daß die Mutter des Kindes, eine junge
Wittwe, unterwegs gestorben und begraben wor¬
den, und daß die Gesellschaft dasselbe gemein¬
schaftlich mitgenommen. Aber noch war es nicht
einmal vermißt worden, das arme Geschöpfchen,
das sich während des Ausruhens verlaufen, und
die guten Leute erschraken sehr, da ich mit dem
lieben Thierchen unvermuthet erschien. Es brauchte
indeß nicht viel Beredtsamkeit, bis sie mir meinen
Fund überließen, da er soviel wie Nichts besaß

getroſt auf den Arm und ging nach dem naͤchſten
Dorfe, um Nachfrage zu halten. Das Kind ge¬
hoͤrte nicht in das Dorf, noch in die Gegend
uͤberhaupt; hingegen erfuhr ich, daß im Laufe
des Nachmittages eine Schaar Auswanderer
durchgezogen mit Weib und Kindern, die nach
dem ſuͤdlichen Rußland gingen und ſich etwas
weiter unten am Fluſſe den folgenden Morgen
einſchiffen wollten. Ich gab das Kind nicht aus
den Haͤnden, blieb in dem Dorfe uͤber Nacht
und begab mich mit dem Morgengrauen nach
der bezeichneten Stelle, wo ich den Trupp ſchon
im Begriffe fand zu Schiffe zu gehen. Es fand
ſich, daß die Mutter des Kindes, eine junge
Wittwe, unterwegs geſtorben und begraben wor¬
den, und daß die Geſellſchaft daſſelbe gemein¬
ſchaftlich mitgenommen. Aber noch war es nicht
einmal vermißt worden, das arme Geſchoͤpfchen,
das ſich waͤhrend des Ausruhens verlaufen, und
die guten Leute erſchraken ſehr, da ich mit dem
lieben Thierchen unvermuthet erſchien. Es brauchte
indeß nicht viel Beredtſamkeit, bis ſie mir meinen
Fund uͤberließen, da er ſoviel wie Nichts beſaß

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[351/0361] getroſt auf den Arm und ging nach dem naͤchſten Dorfe, um Nachfrage zu halten. Das Kind ge¬ hoͤrte nicht in das Dorf, noch in die Gegend uͤberhaupt; hingegen erfuhr ich, daß im Laufe des Nachmittages eine Schaar Auswanderer durchgezogen mit Weib und Kindern, die nach dem ſuͤdlichen Rußland gingen und ſich etwas weiter unten am Fluſſe den folgenden Morgen einſchiffen wollten. Ich gab das Kind nicht aus den Haͤnden, blieb in dem Dorfe uͤber Nacht und begab mich mit dem Morgengrauen nach der bezeichneten Stelle, wo ich den Trupp ſchon im Begriffe fand zu Schiffe zu gehen. Es fand ſich, daß die Mutter des Kindes, eine junge Wittwe, unterwegs geſtorben und begraben wor¬ den, und daß die Geſellſchaft daſſelbe gemein¬ ſchaftlich mitgenommen. Aber noch war es nicht einmal vermißt worden, das arme Geſchoͤpfchen, das ſich waͤhrend des Ausruhens verlaufen, und die guten Leute erſchraken ſehr, da ich mit dem lieben Thierchen unvermuthet erſchien. Es brauchte indeß nicht viel Beredtſamkeit, bis ſie mir meinen Fund uͤberließen, da er ſoviel wie Nichts beſaß

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/361>, abgerufen am 28.03.2024.