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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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ßen zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und
sich herrlich darzustellen. Alle die tausend von
einander Abhängigen streichen ihre grauen Schnäuze
und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit,
sondern aus kindischer Eitelkeit; sie sind eitel im
Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz
und eitel in der Demuth; sie lügen aus Eitelkeit
und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem
Munde zur Lüge; denn sie sagen eine Wahrheit
nicht um ihrer selbst willen, sondern weil es
ihnen im Augenblicke gut anzustehen scheint.
Stolz, Herrschsucht, Neid, Habsucht, Hartherzig¬
keit, Verläumdung, alle diese Laster lassen sich
bändigen und zurückhalten oder in Schlummer
singen; nur die Eitelkeit ist immer wach und ver¬
strickt den Menschen unaufhörlich in tausend lü¬
genhafte Dinge, Brutalitäten und kleinere oder
größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz ande¬
res Wesen aus ihm machen, als er ursprünglich
war und eigentlich sein will. Denn die Eitelkeit
ist nichts anderes, als die krankhafte Abirrung
von sich selbst, der Mangel an genügendem Ge¬
fühl seines sichern Daseins und die Angst, gerade

ßen zu laſſen, um nicht zu kurz zu kommen und
ſich herrlich darzuſtellen. Alle die tauſend von
einander Abhaͤngigen ſtreichen ihre grauen Schnaͤuze
und laſſen die Augen rollen, nicht aus Bosheit,
ſondern aus kindiſcher Eitelkeit; ſie ſind eitel im
Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz
und eitel in der Demuth; ſie luͤgen aus Eitelkeit
und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem
Munde zur Luͤge; denn ſie ſagen eine Wahrheit
nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern weil es
ihnen im Augenblicke gut anzuſtehen ſcheint.
Stolz, Herrſchſucht, Neid, Habſucht, Hartherzig¬
keit, Verlaͤumdung, alle dieſe Laſter laſſen ſich
baͤndigen und zuruͤckhalten oder in Schlummer
ſingen; nur die Eitelkeit iſt immer wach und ver¬
ſtrickt den Menſchen unaufhoͤrlich in tauſend luͤ¬
genhafte Dinge, Brutalitaͤten und kleinere oder
groͤßere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz ande¬
res Weſen aus ihm machen, als er urſpruͤnglich
war und eigentlich ſein will. Denn die Eitelkeit
iſt nichts anderes, als die krankhafte Abirrung
von ſich ſelbſt, der Mangel an genuͤgendem Ge¬
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[285/0295] ßen zu laſſen, um nicht zu kurz zu kommen und ſich herrlich darzuſtellen. Alle die tauſend von einander Abhaͤngigen ſtreichen ihre grauen Schnaͤuze und laſſen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, ſondern aus kindiſcher Eitelkeit; ſie ſind eitel im Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz und eitel in der Demuth; ſie luͤgen aus Eitelkeit und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem Munde zur Luͤge; denn ſie ſagen eine Wahrheit nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern weil es ihnen im Augenblicke gut anzuſtehen ſcheint. Stolz, Herrſchſucht, Neid, Habſucht, Hartherzig¬ keit, Verlaͤumdung, alle dieſe Laſter laſſen ſich baͤndigen und zuruͤckhalten oder in Schlummer ſingen; nur die Eitelkeit iſt immer wach und ver¬ ſtrickt den Menſchen unaufhoͤrlich in tauſend luͤ¬ genhafte Dinge, Brutalitaͤten und kleinere oder groͤßere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz ande¬ res Weſen aus ihm machen, als er urſpruͤnglich war und eigentlich ſein will. Denn die Eitelkeit iſt nichts anderes, als die krankhafte Abirrung von ſich ſelbſt, der Mangel an genuͤgendem Ge¬ fuͤhl ſeines ſichern Daſeins und die Angſt, gerade

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/295>, abgerufen am 28.03.2024.