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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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fand und Alles sich unmerklich jeden Augenblick
erneuerte und doch das Alte blieb, schien auf die¬
ser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft nur Ein Ding zu sein.

"Nun möcht' ich wohl wissen," sagte Heinrich
vor sich hin, während er aufmerksam Alles auf's
Genaueste betrachtete, "was dies für eine muntere
und lustige Sache hier ist!"

Das Pferd erwiederte auf der Stelle: "Dies
nennt man die Identität der Nation!"

"Himmel!" rief sein Reiter, "Du bist ein sehr
gelehrtes Pferd! Der Hafer muß Dich wirklich
stechen! Wo hast Du diese gelehrte Anschauung
erworben?"

"Erinnere Dich," sagte der Goldfuchs, "auf
wem Du reitest! Bin ich nicht aus Gold ent¬
standen? Gold aber ist Reichthum und Reich¬
thum ist Einsicht."

Bei diesen Worten merkte Heinrich plötzlich,
daß sein Mantelsack statt mit Wäsche jetzt gänz¬
lich mit jenen goldenen Münzen angefüllt und
ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern
in das Wasser geworfen hatte. Ohne zu grübeln,

fand und Alles ſich unmerklich jeden Augenblick
erneuerte und doch das Alte blieb, ſchien auf die¬
ſer wunderbar belebten Bruͤcke Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft nur Ein Ding zu ſein.

»Nun moͤcht' ich wohl wiſſen,« ſagte Heinrich
vor ſich hin, waͤhrend er aufmerkſam Alles auf's
Genaueſte betrachtete, »was dies fuͤr eine muntere
und luſtige Sache hier iſt!«

Das Pferd erwiederte auf der Stelle: »Dies
nennt man die Identitaͤt der Nation!«

»Himmel!« rief ſein Reiter, »Du biſt ein ſehr
gelehrtes Pferd! Der Hafer muß Dich wirklich
ſtechen! Wo haſt Du dieſe gelehrte Anſchauung
erworben?«

»Erinnere Dich,« ſagte der Goldfuchs, »auf
wem Du reiteſt! Bin ich nicht aus Gold ent¬
ſtanden? Gold aber iſt Reichthum und Reich¬
thum iſt Einſicht.«

Bei dieſen Worten merkte Heinrich ploͤtzlich,
daß ſein Mantelſack ſtatt mit Waͤſche jetzt gaͤnz¬
lich mit jenen goldenen Muͤnzen angefuͤllt und
ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern
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[242/0252] fand und Alles ſich unmerklich jeden Augenblick erneuerte und doch das Alte blieb, ſchien auf die¬ ſer wunderbar belebten Bruͤcke Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur Ein Ding zu ſein. »Nun moͤcht' ich wohl wiſſen,« ſagte Heinrich vor ſich hin, waͤhrend er aufmerkſam Alles auf's Genaueſte betrachtete, »was dies fuͤr eine muntere und luſtige Sache hier iſt!« Das Pferd erwiederte auf der Stelle: »Dies nennt man die Identitaͤt der Nation!« »Himmel!« rief ſein Reiter, »Du biſt ein ſehr gelehrtes Pferd! Der Hafer muß Dich wirklich ſtechen! Wo haſt Du dieſe gelehrte Anſchauung erworben?« »Erinnere Dich,« ſagte der Goldfuchs, »auf wem Du reiteſt! Bin ich nicht aus Gold ent¬ ſtanden? Gold aber iſt Reichthum und Reich¬ thum iſt Einſicht.« Bei dieſen Worten merkte Heinrich ploͤtzlich, daß ſein Mantelſack ſtatt mit Waͤſche jetzt gaͤnz¬ lich mit jenen goldenen Muͤnzen angefuͤllt und ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern in das Waſſer geworfen hatte. Ohne zu gruͤbeln,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/252>, abgerufen am 29.03.2024.