Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

in der weit und breiten Stille; da ersah sie ihn
plötzlich, als er hoch über der Schlucht auf seinem
schwebenden Stege stand und sehnlich auf sie
herabschaute. Sie stieß einen lauten weithin
verklingenden Freudenschrei aus und schwebte
blitzschnell wie ein Geist davon über Stock und
Stein, ohne zu gehen, so daß sie Heinrich immer
in der größten Ferne zu entschwinden drohte,
während er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß
die Baumkronen um ihn tanzten und sausten und
der Steg sich bog und knarrte.

Plötzlich war der Wald aus und Heinrich
sah sich auf dem steilen Berge stehen, welcher
seiner Geburtsstadt gegenüberlag, aber welch einen
Anblick bot diese. Der Fluß war zehnmal breiter
als sonst und glänzte wie ein Spiegel; die Häuser
waren alle so groß wie sonst die Münsterkirche,
von der fabelhaftesten Bauart und leuchteten im
Sonnenschein; alle Fenster waren mit einer Fülle
der seltensten Blumen bedeckt, die schwer über die
mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die
Linden stiegen in unabsehbarer Höhe in den dun¬
kelblauen durchsichtigen Himmel hinein, der ein

in der weit und breiten Stille; da erſah ſie ihn
ploͤtzlich, als er hoch uͤber der Schlucht auf ſeinem
ſchwebenden Stege ſtand und ſehnlich auf ſie
herabſchaute. Sie ſtieß einen lauten weithin
verklingenden Freudenſchrei aus und ſchwebte
blitzſchnell wie ein Geiſt davon uͤber Stock und
Stein, ohne zu gehen, ſo daß ſie Heinrich immer
in der groͤßten Ferne zu entſchwinden drohte,
waͤhrend er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß
die Baumkronen um ihn tanzten und ſauſten und
der Steg ſich bog und knarrte.

Ploͤtzlich war der Wald aus und Heinrich
ſah ſich auf dem ſteilen Berge ſtehen, welcher
ſeiner Geburtsſtadt gegenuͤberlag, aber welch einen
Anblick bot dieſe. Der Fluß war zehnmal breiter
als ſonſt und glaͤnzte wie ein Spiegel; die Haͤuſer
waren alle ſo groß wie ſonſt die Muͤnſterkirche,
von der fabelhafteſten Bauart und leuchteten im
Sonnenſchein; alle Fenſter waren mit einer Fuͤlle
der ſeltenſten Blumen bedeckt, die ſchwer uͤber die
mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die
Linden ſtiegen in unabſehbarer Hoͤhe in den dun¬
kelblauen durchſichtigen Himmel hinein, der ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0246" n="236"/>
in der weit und breiten Stille; da er&#x017F;ah &#x017F;ie ihn<lb/>
plo&#x0364;tzlich, als er hoch u&#x0364;ber der Schlucht auf &#x017F;einem<lb/>
&#x017F;chwebenden Stege &#x017F;tand und &#x017F;ehnlich auf &#x017F;ie<lb/>
herab&#x017F;chaute. Sie &#x017F;tieß einen lauten weithin<lb/>
verklingenden Freuden&#x017F;chrei aus und &#x017F;chwebte<lb/>
blitz&#x017F;chnell wie ein Gei&#x017F;t davon u&#x0364;ber Stock und<lb/>
Stein, ohne zu gehen, &#x017F;o daß &#x017F;ie Heinrich immer<lb/>
in der gro&#x0364;ßten Ferne zu ent&#x017F;chwinden drohte,<lb/>
wa&#x0364;hrend er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß<lb/>
die Baumkronen um ihn tanzten und &#x017F;au&#x017F;ten und<lb/>
der Steg &#x017F;ich bog und knarrte.</p><lb/>
        <p>Plo&#x0364;tzlich war der Wald aus und Heinrich<lb/>
&#x017F;ah &#x017F;ich auf dem &#x017F;teilen Berge &#x017F;tehen, welcher<lb/>
&#x017F;einer Geburts&#x017F;tadt gegenu&#x0364;berlag, aber welch einen<lb/>
Anblick bot die&#x017F;e. Der Fluß war zehnmal breiter<lb/>
als &#x017F;on&#x017F;t und gla&#x0364;nzte wie ein Spiegel; die Ha&#x0364;u&#x017F;er<lb/>
waren alle &#x017F;o groß wie &#x017F;on&#x017F;t die Mu&#x0364;n&#x017F;terkirche,<lb/>
von der fabelhafte&#x017F;ten Bauart und leuchteten im<lb/>
Sonnen&#x017F;chein; alle Fen&#x017F;ter waren mit einer Fu&#x0364;lle<lb/>
der &#x017F;elten&#x017F;ten Blumen bedeckt, die &#x017F;chwer u&#x0364;ber die<lb/>
mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die<lb/>
Linden &#x017F;tiegen in unab&#x017F;ehbarer Ho&#x0364;he in den dun¬<lb/>
kelblauen durch&#x017F;ichtigen Himmel hinein, der ein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0246] in der weit und breiten Stille; da erſah ſie ihn ploͤtzlich, als er hoch uͤber der Schlucht auf ſeinem ſchwebenden Stege ſtand und ſehnlich auf ſie herabſchaute. Sie ſtieß einen lauten weithin verklingenden Freudenſchrei aus und ſchwebte blitzſchnell wie ein Geiſt davon uͤber Stock und Stein, ohne zu gehen, ſo daß ſie Heinrich immer in der groͤßten Ferne zu entſchwinden drohte, waͤhrend er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß die Baumkronen um ihn tanzten und ſauſten und der Steg ſich bog und knarrte. Ploͤtzlich war der Wald aus und Heinrich ſah ſich auf dem ſteilen Berge ſtehen, welcher ſeiner Geburtsſtadt gegenuͤberlag, aber welch einen Anblick bot dieſe. Der Fluß war zehnmal breiter als ſonſt und glaͤnzte wie ein Spiegel; die Haͤuſer waren alle ſo groß wie ſonſt die Muͤnſterkirche, von der fabelhafteſten Bauart und leuchteten im Sonnenſchein; alle Fenſter waren mit einer Fuͤlle der ſeltenſten Blumen bedeckt, die ſchwer uͤber die mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die Linden ſtiegen in unabſehbarer Hoͤhe in den dun¬ kelblauen durchſichtigen Himmel hinein, der ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/246
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/246>, abgerufen am 28.03.2024.