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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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schnell drehte; sie spann nur mit der einen Hand
den leuchtenden Faden, der sich nicht auf die
Spule wickelte, sondern kreuz und quer an dem
Abhange herumzog und sich da sogleich zu großen
Flächen blendender Leinwand bildete. Diese
stieg höher und höher hinan, und plötzlich fühlte
Heinrich ein schweres Gewicht auf seiner Schulter
und entdeckte, daß er den vergessenen Mantelsack
trug, der von den feinen Hemden ganz geschwollen
war. Indem er sich mühselig damit schleppte,
sah er wie die Fasanen plötzlich schöne Bettstücke
waren, die seine Mutter sonnte und eifrig aus¬
klopfte. Dann nahm sie dieselben zusammen und
trug sie geschäftig herum und eines um's andere
in den Berg hinein. Wenn sie wieder heraus¬
kam, so schaute sie mit der Hand über den Augen
sich um und sang:

Mein Sohn, mein Sohn,
O schöner Ton!
Wie schön er verhallt
Im tönenden Wald!
Mein Sohn, mein Sohn geht durch den Wald!

Ihre Stimme tönte rührend hell und klingend

ſchnell drehte; ſie ſpann nur mit der einen Hand
den leuchtenden Faden, der ſich nicht auf die
Spule wickelte, ſondern kreuz und quer an dem
Abhange herumzog und ſich da ſogleich zu großen
Flaͤchen blendender Leinwand bildete. Dieſe
ſtieg hoͤher und hoͤher hinan, und ploͤtzlich fuͤhlte
Heinrich ein ſchweres Gewicht auf ſeiner Schulter
und entdeckte, daß er den vergeſſenen Mantelſack
trug, der von den feinen Hemden ganz geſchwollen
war. Indem er ſich muͤhſelig damit ſchleppte,
ſah er wie die Faſanen ploͤtzlich ſchoͤne Bettſtuͤcke
waren, die ſeine Mutter ſonnte und eifrig aus¬
klopfte. Dann nahm ſie dieſelben zuſammen und
trug ſie geſchaͤftig herum und eines um's andere
in den Berg hinein. Wenn ſie wieder heraus¬
kam, ſo ſchaute ſie mit der Hand uͤber den Augen
ſich um und ſang:

Mein Sohn, mein Sohn,
O ſchoͤner Ton!
Wie ſchoͤn er verhallt
Im toͤnenden Wald!
Mein Sohn, mein Sohn geht durch den Wald!

Ihre Stimme toͤnte ruͤhrend hell und klingend

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[235/0245] ſchnell drehte; ſie ſpann nur mit der einen Hand den leuchtenden Faden, der ſich nicht auf die Spule wickelte, ſondern kreuz und quer an dem Abhange herumzog und ſich da ſogleich zu großen Flaͤchen blendender Leinwand bildete. Dieſe ſtieg hoͤher und hoͤher hinan, und ploͤtzlich fuͤhlte Heinrich ein ſchweres Gewicht auf ſeiner Schulter und entdeckte, daß er den vergeſſenen Mantelſack trug, der von den feinen Hemden ganz geſchwollen war. Indem er ſich muͤhſelig damit ſchleppte, ſah er wie die Faſanen ploͤtzlich ſchoͤne Bettſtuͤcke waren, die ſeine Mutter ſonnte und eifrig aus¬ klopfte. Dann nahm ſie dieſelben zuſammen und trug ſie geſchaͤftig herum und eines um's andere in den Berg hinein. Wenn ſie wieder heraus¬ kam, ſo ſchaute ſie mit der Hand uͤber den Augen ſich um und ſang: Mein Sohn, mein Sohn, O ſchoͤner Ton! Wie ſchoͤn er verhallt Im toͤnenden Wald! Mein Sohn, mein Sohn geht durch den Wald! Ihre Stimme toͤnte ruͤhrend hell und klingend

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/245>, abgerufen am 29.03.2024.