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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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heuerster Erbauung, welche Art derjenigen schlech¬
ter Scribenten gleicht, die alle Augenblicke ein
Wort unterstreichen, einen neuen Absatz machen
und ihre magere Schrift mit allen aufgehäuften
interpunctorischen Mitteln überstreuen. Denn
die gute schriftliche Rede soll so beschaffen sein,
daß wenn sie durch Zeit und Schicksale aller
äußeren Unterscheidungszeichen beraubt und nur
eine zusammengelaufene Schriftmasse bilden
würde, sie dennoch nicht ein Jota an ihrem In¬
halt und an ihrer Klarheit verlöre.

Alle diese Lebensart gewann nun einen ge¬
wissermaßen veredelnden und rechtfertigenden An¬
strich dadurch, daß von dem Verkehr mit Weibern
keine Rede war, sondern zufällig eine Schaar
junger Leute zusammentraf, welche sich darin ge¬
fiel, in diesen Dingen unberührt zu heißen oder
höchstens einer Neigung sich bewußt zu sein, welche
heilig gehalten und unbesprochen sein wollte.
Heinrich war sogleich seiner äußeren leiblichen
Unschuld froh und vergaß gänzlich, daß er jemals
nach schönen Gesichtern gesehen hatte und daß es
solche überhaupt in der Welt gab, die Fähigkeit

heuerſter Erbauung, welche Art derjenigen ſchlech¬
ter Scribenten gleicht, die alle Augenblicke ein
Wort unterſtreichen, einen neuen Abſatz machen
und ihre magere Schrift mit allen aufgehaͤuften
interpunctoriſchen Mitteln uͤberſtreuen. Denn
die gute ſchriftliche Rede ſoll ſo beſchaffen ſein,
daß wenn ſie durch Zeit und Schickſale aller
aͤußeren Unterſcheidungszeichen beraubt und nur
eine zuſammengelaufene Schriftmaſſe bilden
wuͤrde, ſie dennoch nicht ein Jota an ihrem In¬
halt und an ihrer Klarheit verloͤre.

Alle dieſe Lebensart gewann nun einen ge¬
wiſſermaßen veredelnden und rechtfertigenden An¬
ſtrich dadurch, daß von dem Verkehr mit Weibern
keine Rede war, ſondern zufaͤllig eine Schaar
junger Leute zuſammentraf, welche ſich darin ge¬
fiel, in dieſen Dingen unberuͤhrt zu heißen oder
hoͤchſtens einer Neigung ſich bewußt zu ſein, welche
heilig gehalten und unbeſprochen ſein wollte.
Heinrich war ſogleich ſeiner aͤußeren leiblichen
Unſchuld froh und vergaß gaͤnzlich, daß er jemals
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[148/0158] heuerſter Erbauung, welche Art derjenigen ſchlech¬ ter Scribenten gleicht, die alle Augenblicke ein Wort unterſtreichen, einen neuen Abſatz machen und ihre magere Schrift mit allen aufgehaͤuften interpunctoriſchen Mitteln uͤberſtreuen. Denn die gute ſchriftliche Rede ſoll ſo beſchaffen ſein, daß wenn ſie durch Zeit und Schickſale aller aͤußeren Unterſcheidungszeichen beraubt und nur eine zuſammengelaufene Schriftmaſſe bilden wuͤrde, ſie dennoch nicht ein Jota an ihrem In¬ halt und an ihrer Klarheit verloͤre. Alle dieſe Lebensart gewann nun einen ge¬ wiſſermaßen veredelnden und rechtfertigenden An¬ ſtrich dadurch, daß von dem Verkehr mit Weibern keine Rede war, ſondern zufaͤllig eine Schaar junger Leute zuſammentraf, welche ſich darin ge¬ fiel, in dieſen Dingen unberuͤhrt zu heißen oder hoͤchſtens einer Neigung ſich bewußt zu ſein, welche heilig gehalten und unbeſprochen ſein wollte. Heinrich war ſogleich ſeiner aͤußeren leiblichen Unſchuld froh und vergaß gaͤnzlich, daß er jemals nach ſchoͤnen Geſichtern geſehen hatte und daß es ſolche uͤberhaupt in der Welt gab, die Faͤhigkeit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/158>, abgerufen am 28.03.2024.