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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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ihr einsames Herz. Ein mächtiges Ostermorgen¬
geläute weckte und mahnte sie, Trost in der Ge¬
meinschaft der vollen Kirche zu suchen. Schwarz
und feierlich gekleidet ging sie hin; es ward ihr
wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge
Frauen gleichen Standes: allein, da der Prediger
ausschließlich das Wunder der Auferstehung sowie
der vorhergehenden Höllenfahrt dogmatisirend ver¬
handelte, ohne die mindesten Beziehungen zu
einem erregten Menschenherzen, so genoß die gute
Frau vom ganzen Gottesdienste nichts, als das
Vaterunser, welches sie recht inbrünstig mitbetete,
dessen innerste Wahrheit sie aufrichtete.

Die Erinnerung an empfangene Liebe, als
ein Zeugniß, daß man Ein Mal im Leben
liebenswürdig und werth war, ist es vorzüglich,
welche die Sehnsucht nach der früheren Jugend
nie ersterben läßt. Wer nicht das Glück hatte,
eine aufknospende zarte und heilige Jugendliebe
zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue
und liebevolle Mutter gehabt, und in den spätern
Tagen bringen beide Erinnerungen ungefähr den

ihr einſames Herz. Ein maͤchtiges Oſtermorgen¬
gelaͤute weckte und mahnte ſie, Troſt in der Ge¬
meinſchaft der vollen Kirche zu ſuchen. Schwarz
und feierlich gekleidet ging ſie hin; es ward ihr
wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge
Frauen gleichen Standes: allein, da der Prediger
ausſchließlich das Wunder der Auferſtehung ſowie
der vorhergehenden Hoͤllenfahrt dogmatiſirend ver¬
handelte, ohne die mindeſten Beziehungen zu
einem erregten Menſchenherzen, ſo genoß die gute
Frau vom ganzen Gottesdienſte nichts, als das
Vaterunſer, welches ſie recht inbruͤnſtig mitbetete,
deſſen innerſte Wahrheit ſie aufrichtete.

Die Erinnerung an empfangene Liebe, als
ein Zeugniß, daß man Ein Mal im Leben
liebenswuͤrdig und werth war, iſt es vorzuͤglich,
welche die Sehnſucht nach der fruͤheren Jugend
nie erſterben laͤßt. Wer nicht das Gluͤck hatte,
eine aufknoſpende zarte und heilige Jugendliebe
zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue
und liebevolle Mutter gehabt, und in den ſpaͤtern
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[27/0041] ihr einſames Herz. Ein maͤchtiges Oſtermorgen¬ gelaͤute weckte und mahnte ſie, Troſt in der Ge¬ meinſchaft der vollen Kirche zu ſuchen. Schwarz und feierlich gekleidet ging ſie hin; es ward ihr wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge Frauen gleichen Standes: allein, da der Prediger ausſchließlich das Wunder der Auferſtehung ſowie der vorhergehenden Hoͤllenfahrt dogmatiſirend ver¬ handelte, ohne die mindeſten Beziehungen zu einem erregten Menſchenherzen, ſo genoß die gute Frau vom ganzen Gottesdienſte nichts, als das Vaterunſer, welches ſie recht inbruͤnſtig mitbetete, deſſen innerſte Wahrheit ſie aufrichtete. Die Erinnerung an empfangene Liebe, als ein Zeugniß, daß man Ein Mal im Leben liebenswuͤrdig und werth war, iſt es vorzuͤglich, welche die Sehnſucht nach der fruͤheren Jugend nie erſterben laͤßt. Wer nicht das Gluͤck hatte, eine aufknoſpende zarte und heilige Jugendliebe zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue und liebevolle Mutter gehabt, und in den ſpaͤtern Tagen bringen beide Erinnerungen ungefaͤhr den

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/41>, abgerufen am 29.03.2024.