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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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ken, und mach', daß Du bald etwas lernst und
endlich selbstständig werdest; denn Du weißt ge¬
nau, wieviel Du noch zu verbrauchen hast und
daß ich Dir nachher nichts mehr werde schicken
können, das heißt, wenn es Dir übel ergehen
sollte, so schreibe mir ja, so lange Du weißt,
daß ich selbst noch einen Pfennig besitze, ich könnte
es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wissen."

Der Sohn schaute während dieser Anrede
stumm in seine Tasse und schien nicht sehr gerührt
zu sein. Die Mutter erwartete aber keine ande¬
ren Geberden, sie wußte schon, woran sie war
und fühlte sich etwas erleichtert. Ach, du lieber
Himmel! dachte sie, eine Wittwe muß doch Alles
auf sich nehmen: diese Ermahnungen zu ertheilen,
dazu gehört eigentlich ein Vater, eine Frau kann
solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen;
wenn das arme Kind nicht zurecht kommt, wie
werde ich die Sorge mit dem gehörigen klugen
Ernste vereinigen können?

Heinrich aber war jetzt mit seinen Gedanken
schon weit in der Ferne: die Neugierde, die Hoff¬
nung, Lebens- und Wanderlust hatten ihn mäch¬

ken, und mach', daß Du bald etwas lernſt und
endlich ſelbſtſtaͤndig werdeſt; denn Du weißt ge¬
nau, wieviel Du noch zu verbrauchen haſt und
daß ich Dir nachher nichts mehr werde ſchicken
koͤnnen, das heißt, wenn es Dir uͤbel ergehen
ſollte, ſo ſchreibe mir ja, ſo lange Du weißt,
daß ich ſelbſt noch einen Pfennig beſitze, ich koͤnnte
es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wiſſen.«

Der Sohn ſchaute waͤhrend dieſer Anrede
ſtumm in ſeine Taſſe und ſchien nicht ſehr geruͤhrt
zu ſein. Die Mutter erwartete aber keine ande¬
ren Geberden, ſie wußte ſchon, woran ſie war
und fuͤhlte ſich etwas erleichtert. Ach, du lieber
Himmel! dachte ſie, eine Wittwe muß doch Alles
auf ſich nehmen: dieſe Ermahnungen zu ertheilen,
dazu gehoͤrt eigentlich ein Vater, eine Frau kann
ſolche Dinge nicht auf die rechte Weiſe ſagen;
wenn das arme Kind nicht zurecht kommt, wie
werde ich die Sorge mit dem gehoͤrigen klugen
Ernſte vereinigen koͤnnen?

Heinrich aber war jetzt mit ſeinen Gedanken
ſchon weit in der Ferne: die Neugierde, die Hoff¬
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[24/0038] ken, und mach', daß Du bald etwas lernſt und endlich ſelbſtſtaͤndig werdeſt; denn Du weißt ge¬ nau, wieviel Du noch zu verbrauchen haſt und daß ich Dir nachher nichts mehr werde ſchicken koͤnnen, das heißt, wenn es Dir uͤbel ergehen ſollte, ſo ſchreibe mir ja, ſo lange Du weißt, daß ich ſelbſt noch einen Pfennig beſitze, ich koͤnnte es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wiſſen.« Der Sohn ſchaute waͤhrend dieſer Anrede ſtumm in ſeine Taſſe und ſchien nicht ſehr geruͤhrt zu ſein. Die Mutter erwartete aber keine ande¬ ren Geberden, ſie wußte ſchon, woran ſie war und fuͤhlte ſich etwas erleichtert. Ach, du lieber Himmel! dachte ſie, eine Wittwe muß doch Alles auf ſich nehmen: dieſe Ermahnungen zu ertheilen, dazu gehoͤrt eigentlich ein Vater, eine Frau kann ſolche Dinge nicht auf die rechte Weiſe ſagen; wenn das arme Kind nicht zurecht kommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehoͤrigen klugen Ernſte vereinigen koͤnnen? Heinrich aber war jetzt mit ſeinen Gedanken ſchon weit in der Ferne: die Neugierde, die Hoff¬ nung, Lebens- und Wanderluſt hatten ihn maͤch¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/38>, abgerufen am 29.03.2024.