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Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907.

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I.
1. Kleinbetrieb und Großbetrieb.

Was wollen die Sozialdemokraten?

Es gibt kaum eine andere Frage, die heute von mehr Menschen gestellt, kaum
eine andere, auf die heute - wenigstens von Nichtsozialdemokraten - so selten
eine richtige Antwort gegeben würde. Und doch ist sie nicht erst in jüngster Zeit
aufgetaucht. Schon vor mehr als fünfzig Jahren wurde allgemein gefragt, was
die "Kommunisten" wollten, und schon damals haben diese eine klare und
unzweideutige Antwort gegeben im " kommunistischen Manifest".

Eine weitere unzweideutige Antwort bildet das Programm der deutschen
Sozialdemokratie. Die jüngste Form desselben ist die auf dem Parteitag zu
Erfurt 1891 beschlossene. Jn diesem Programm setzt die sozialdemokratische
Partei ausführlich die Forderungen auseinander, die sie an den heutigen
Staat stellt, und sie leitet es ein mit einer Darlegung ihrer Grundsätze.

Dieser einleitende, grundsätzliche Teil hat uns zunächst zu beschäftigen. Er
enthält die Begründung und Bestimmung des letzten Zieles, das die Sozialdemo
kratie sich setzt, und er legt die Triebkräfte dar, die alle Hindernisse überwinden
werden und müssen, welche der Erreichung dieses hohen Zieles im Wege stehen.
Aus der Erkenntnis des Zieles und der Triebkräfte ergeben sich dann leicht die
einzelnen Forderungen an den heutigen Staat, als Mittel zum Zweck.

Der einleitende Teil - die Prinzipienerklärung - des Erfurter Pro-
gramms lautet:

"Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit
Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das
Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt
den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen
besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer ver-
hältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.

Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht
die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe,
geht die Entwickelung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes
Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser
Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern mono-
polisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten - Klein
bürger, Bauern - bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer
Existenz, des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Erniedrigung, der Aus-
beutung.

Jmmer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die
Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen
Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen
Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche
Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Jndustrieländer ist.

Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert
durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen,
die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit
zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die

I.
1. Kleinbetrieb und Großbetrieb.

Was wollen die Sozialdemokraten?

Es gibt kaum eine andere Frage, die heute von mehr Menschen gestellt, kaum
eine andere, auf die heute – wenigstens von Nichtsozialdemokraten – so selten
eine richtige Antwort gegeben würde. Und doch ist sie nicht erst in jüngster Zeit
aufgetaucht. Schon vor mehr als fünfzig Jahren wurde allgemein gefragt, was
die „Kommunisten“ wollten, und schon damals haben diese eine klare und
unzweideutige Antwort gegeben im „ kommunistischen Manifest“.

Eine weitere unzweideutige Antwort bildet das Programm der deutschen
Sozialdemokratie. Die jüngste Form desselben ist die auf dem Parteitag zu
Erfurt 1891 beschlossene. Jn diesem Programm setzt die sozialdemokratische
Partei ausführlich die Forderungen auseinander, die sie an den heutigen
Staat stellt, und sie leitet es ein mit einer Darlegung ihrer Grundsätze.

Dieser einleitende, grundsätzliche Teil hat uns zunächst zu beschäftigen. Er
enthält die Begründung und Bestimmung des letzten Zieles, das die Sozialdemo
kratie sich setzt, und er legt die Triebkräfte dar, die alle Hindernisse überwinden
werden und müssen, welche der Erreichung dieses hohen Zieles im Wege stehen.
Aus der Erkenntnis des Zieles und der Triebkräfte ergeben sich dann leicht die
einzelnen Forderungen an den heutigen Staat, als Mittel zum Zweck.

Der einleitende Teil – die Prinzipienerklärung – des Erfurter Pro-
gramms lautet:

„Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit
Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das
Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt
den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen
besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer ver-
hältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.

Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht
die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe,
geht die Entwickelung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes
Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser
Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern mono-
polisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten – Klein
bürger, Bauern – bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer
Existenz, des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Erniedrigung, der Aus-
beutung.

Jmmer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die
Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen
Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen
Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche
Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Jndustrieländer ist.

Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert
durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen,
die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit
zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die

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[0005] I. 1. Kleinbetrieb und Großbetrieb. Was wollen die Sozialdemokraten? Es gibt kaum eine andere Frage, die heute von mehr Menschen gestellt, kaum eine andere, auf die heute – wenigstens von Nichtsozialdemokraten – so selten eine richtige Antwort gegeben würde. Und doch ist sie nicht erst in jüngster Zeit aufgetaucht. Schon vor mehr als fünfzig Jahren wurde allgemein gefragt, was die „Kommunisten“ wollten, und schon damals haben diese eine klare und unzweideutige Antwort gegeben im „ kommunistischen Manifest“. Eine weitere unzweideutige Antwort bildet das Programm der deutschen Sozialdemokratie. Die jüngste Form desselben ist die auf dem Parteitag zu Erfurt 1891 beschlossene. Jn diesem Programm setzt die sozialdemokratische Partei ausführlich die Forderungen auseinander, die sie an den heutigen Staat stellt, und sie leitet es ein mit einer Darlegung ihrer Grundsätze. Dieser einleitende, grundsätzliche Teil hat uns zunächst zu beschäftigen. Er enthält die Begründung und Bestimmung des letzten Zieles, das die Sozialdemo kratie sich setzt, und er legt die Triebkräfte dar, die alle Hindernisse überwinden werden und müssen, welche der Erreichung dieses hohen Zieles im Wege stehen. Aus der Erkenntnis des Zieles und der Triebkräfte ergeben sich dann leicht die einzelnen Forderungen an den heutigen Staat, als Mittel zum Zweck. Der einleitende Teil – die Prinzipienerklärung – des Erfurter Pro- gramms lautet: „Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer ver- hältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwickelung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern mono- polisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten – Klein bürger, Bauern – bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Erniedrigung, der Aus- beutung. Jmmer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Jndustrieländer ist. Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-12-08T17:50:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-12-08T17:50:02Z)

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Zitationshilfe: Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kautsky_grundsaetze_1907/5>, abgerufen am 29.03.2024.