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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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häßlich aufwuchs, und hätte sie ihren Körper und ihr
Mienenspiel in der Gewalt gehabt, so würde sie bis
zu ihrem Tode beinahe für schön haben gelten können.
Sie hatte einen wohlgeordneten feinen Wuchs mitt-
lerer Größe, schöne und daurende Gesichtsfarbe, hell-
braunes Haar, die schönste menschliche Stirn, welche
jemals gesehn worden ist, auf welcher ganz das Licht
ihres großen Geistes ausgebreitet lag; die strahlenvoll-
sten, hellsten, sprechendsten blauen Augen, beständig
rothe Lippen, und bei guter Laune herzlichen Froh-
sinn in den Mienen. Allein, wenn sie ihren Forsch-
blikk hatte, welcher die meiste Zeit in ihrem Gesichte
herrschte, so war sie schwer auszuhalten, und man
würde nicht mit ihr haben Umgang pflegen können,
wenn ihre Gedanken und ihr Thun nicht leicht wä-
ren abzulenken gewesen, durch Zerstreuung, welche
oft der Augenblikk würkte. Die Augenlieder zogen
sich bei solchem Blikk zusammen, das Auge wurde
kleiner, und seine Strahlen schossen, gleichsam wie
die Sonne in einem Brennpunkt, auf seinen Ge-
genstand, zusammen. Es war ein verzehrender
Blick; lenkte der Gedanke ihn ab, so sah er seit-
wärts, und ging in eine lächelnde Bewegung des
Mundes über, welche nicht weniger Scheidewasser
als der Blikk selbst hatte. Die Dichterin, welche
nichts von diesem Mienenspiele wußte, hat sich un-

haͤßlich aufwuchs, und haͤtte ſie ihren Koͤrper und ihr
Mienenſpiel in der Gewalt gehabt, ſo wuͤrde ſie bis
zu ihrem Tode beinahe fuͤr ſchoͤn haben gelten koͤnnen.
Sie hatte einen wohlgeordneten feinen Wuchs mitt-
lerer Groͤße, ſchoͤne und daurende Geſichtsfarbe, hell-
braunes Haar, die ſchoͤnſte menſchliche Stirn, welche
jemals geſehn worden iſt, auf welcher ganz das Licht
ihres großen Geiſtes ausgebreitet lag; die ſtrahlenvoll-
ſten, hellſten, ſprechendſten blauen Augen, beſtaͤndig
rothe Lippen, und bei guter Laune herzlichen Froh-
ſinn in den Mienen. Allein, wenn ſie ihren Forſch-
blikk hatte, welcher die meiſte Zeit in ihrem Geſichte
herrſchte, ſo war ſie ſchwer auszuhalten, und man
wuͤrde nicht mit ihr haben Umgang pflegen koͤnnen,
wenn ihre Gedanken und ihr Thun nicht leicht waͤ-
ren abzulenken geweſen, durch Zerſtreuung, welche
oft der Augenblikk wuͤrkte. Die Augenlieder zogen
ſich bei ſolchem Blikk zuſammen, das Auge wurde
kleiner, und ſeine Strahlen ſchoſſen, gleichſam wie
die Sonne in einem Brennpunkt, auf ſeinen Ge-
genſtand, zuſammen. Es war ein verzehrender
Blick; lenkte der Gedanke ihn ab, ſo ſah er ſeit-
waͤrts, und ging in eine laͤchelnde Bewegung des
Mundes uͤber, welche nicht weniger Scheidewaſſer
als der Blikk ſelbſt hatte. Die Dichterin, welche
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[13/0045] haͤßlich aufwuchs, und haͤtte ſie ihren Koͤrper und ihr Mienenſpiel in der Gewalt gehabt, ſo wuͤrde ſie bis zu ihrem Tode beinahe fuͤr ſchoͤn haben gelten koͤnnen. Sie hatte einen wohlgeordneten feinen Wuchs mitt- lerer Groͤße, ſchoͤne und daurende Geſichtsfarbe, hell- braunes Haar, die ſchoͤnſte menſchliche Stirn, welche jemals geſehn worden iſt, auf welcher ganz das Licht ihres großen Geiſtes ausgebreitet lag; die ſtrahlenvoll- ſten, hellſten, ſprechendſten blauen Augen, beſtaͤndig rothe Lippen, und bei guter Laune herzlichen Froh- ſinn in den Mienen. Allein, wenn ſie ihren Forſch- blikk hatte, welcher die meiſte Zeit in ihrem Geſichte herrſchte, ſo war ſie ſchwer auszuhalten, und man wuͤrde nicht mit ihr haben Umgang pflegen koͤnnen, wenn ihre Gedanken und ihr Thun nicht leicht waͤ- ren abzulenken geweſen, durch Zerſtreuung, welche oft der Augenblikk wuͤrkte. Die Augenlieder zogen ſich bei ſolchem Blikk zuſammen, das Auge wurde kleiner, und ſeine Strahlen ſchoſſen, gleichſam wie die Sonne in einem Brennpunkt, auf ſeinen Ge- genſtand, zuſammen. Es war ein verzehrender Blick; lenkte der Gedanke ihn ab, ſo ſah er ſeit- waͤrts, und ging in eine laͤchelnde Bewegung des Mundes uͤber, welche nicht weniger Scheidewaſſer als der Blikk ſelbſt hatte. Die Dichterin, welche nichts von dieſem Mienenſpiele wußte, hat ſich un-

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/45>, abgerufen am 18.04.2024.