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Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Geschichte des Erd-Cörpers. Berlin, 1771.

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Einleitung.
Weite, Entfernung und Anzahl auszumessen er-
dacht hat; indessen erholet sich der menschliche Ver-
stand wieder. Die halb betäubte Verwunderung wird
von seiner unersättlichen Begierde zur Kenntniß und
zum Wissen vertrieben, und macht seiner Forschbe-
gierde Raum, die Natur und das Wesen eines so
unermeßlichen Weltgebäudes näher kennen zu lernen.
Zwar sein Verstand ist so eingeschränkt, daß er hier
wenig mit vollkommener Gewißheit und Ueberzeugung
bestimmen kann. Alles, was er sich hierüber ausden-
ken kann, sind weiter nichts als Wahrscheinlichkeiten
und Hypothesen. Jndessen hat eine dergleichen Hy-
pothese vor der andern immer einen größern Grad der
Wahrscheinlichkeit, und es kann vor die Erweiterung
der menschlichen Einsicht und Kenntnisse gar nicht gleich-
gültig seyn, wie diese Hypothesen beschaffen sind; die-
jenige, welche die größte Wahrscheinlichkeit vor sich
hat, welche mit der Natur und Wesen des Weltge-
bäudes am besten übereinstimmet, welche die mensch-
liche Vernunft am besten befriediget, und derselben
keine Widersprüche und Ohnmöglichkeiten zu glauben
aufbürdet, wird allemal vor denen übrigen den Vor-
zug verdienen, und zur Erweiterung der menschlichen
Erkenntniß das Jhrige beytragen. Man darf sich
nicht abhalten lassen, dergleichen Hypothesen vorzutra-
gen, wenn sie auch nicht mit der Offenbarung vollkom-
men übereinstimmen sollten. Die Theologie und die
Weltweisheit arbeiten in ganz verschiedenen Feldern.
Die erste suchet die Seele, und die andre den Verstand
der Menschen zu verbessern; und wenn die erste Be-
arbeitung auf Wahrheit und guten Gründen beruhet,

so

Einleitung.
Weite, Entfernung und Anzahl auszumeſſen er-
dacht hat; indeſſen erholet ſich der menſchliche Ver-
ſtand wieder. Die halb betaͤubte Verwunderung wird
von ſeiner unerſaͤttlichen Begierde zur Kenntniß und
zum Wiſſen vertrieben, und macht ſeiner Forſchbe-
gierde Raum, die Natur und das Weſen eines ſo
unermeßlichen Weltgebaͤudes naͤher kennen zu lernen.
Zwar ſein Verſtand iſt ſo eingeſchraͤnkt, daß er hier
wenig mit vollkommener Gewißheit und Ueberzeugung
beſtimmen kann. Alles, was er ſich hieruͤber ausden-
ken kann, ſind weiter nichts als Wahrſcheinlichkeiten
und Hypotheſen. Jndeſſen hat eine dergleichen Hy-
potheſe vor der andern immer einen groͤßern Grad der
Wahrſcheinlichkeit, und es kann vor die Erweiterung
der menſchlichen Einſicht und Kenntniſſe gar nicht gleich-
guͤltig ſeyn, wie dieſe Hypotheſen beſchaffen ſind; die-
jenige, welche die groͤßte Wahrſcheinlichkeit vor ſich
hat, welche mit der Natur und Weſen des Weltge-
baͤudes am beſten uͤbereinſtimmet, welche die menſch-
liche Vernunft am beſten befriediget, und derſelben
keine Widerſpruͤche und Ohnmoͤglichkeiten zu glauben
aufbuͤrdet, wird allemal vor denen uͤbrigen den Vor-
zug verdienen, und zur Erweiterung der menſchlichen
Erkenntniß das Jhrige beytragen. Man darf ſich
nicht abhalten laſſen, dergleichen Hypotheſen vorzutra-
gen, wenn ſie auch nicht mit der Offenbarung vollkom-
men uͤbereinſtimmen ſollten. Die Theologie und die
Weltweisheit arbeiten in ganz verſchiedenen Feldern.
Die erſte ſuchet die Seele, und die andre den Verſtand
der Menſchen zu verbeſſern; und wenn die erſte Be-
arbeitung auf Wahrheit und guten Gruͤnden beruhet,

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[4/0032] Einleitung. Weite, Entfernung und Anzahl auszumeſſen er- dacht hat; indeſſen erholet ſich der menſchliche Ver- ſtand wieder. Die halb betaͤubte Verwunderung wird von ſeiner unerſaͤttlichen Begierde zur Kenntniß und zum Wiſſen vertrieben, und macht ſeiner Forſchbe- gierde Raum, die Natur und das Weſen eines ſo unermeßlichen Weltgebaͤudes naͤher kennen zu lernen. Zwar ſein Verſtand iſt ſo eingeſchraͤnkt, daß er hier wenig mit vollkommener Gewißheit und Ueberzeugung beſtimmen kann. Alles, was er ſich hieruͤber ausden- ken kann, ſind weiter nichts als Wahrſcheinlichkeiten und Hypotheſen. Jndeſſen hat eine dergleichen Hy- potheſe vor der andern immer einen groͤßern Grad der Wahrſcheinlichkeit, und es kann vor die Erweiterung der menſchlichen Einſicht und Kenntniſſe gar nicht gleich- guͤltig ſeyn, wie dieſe Hypotheſen beſchaffen ſind; die- jenige, welche die groͤßte Wahrſcheinlichkeit vor ſich hat, welche mit der Natur und Weſen des Weltge- baͤudes am beſten uͤbereinſtimmet, welche die menſch- liche Vernunft am beſten befriediget, und derſelben keine Widerſpruͤche und Ohnmoͤglichkeiten zu glauben aufbuͤrdet, wird allemal vor denen uͤbrigen den Vor- zug verdienen, und zur Erweiterung der menſchlichen Erkenntniß das Jhrige beytragen. Man darf ſich nicht abhalten laſſen, dergleichen Hypotheſen vorzutra- gen, wenn ſie auch nicht mit der Offenbarung vollkom- men uͤbereinſtimmen ſollten. Die Theologie und die Weltweisheit arbeiten in ganz verſchiedenen Feldern. Die erſte ſuchet die Seele, und die andre den Verſtand der Menſchen zu verbeſſern; und wenn die erſte Be- arbeitung auf Wahrheit und guten Gruͤnden beruhet, ſo

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Zitationshilfe: Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Geschichte des Erd-Cörpers. Berlin, 1771, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_geschichte_1771/32>, abgerufen am 23.04.2024.