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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
kehren vielmehr jetzt zum ältern römischen Recht zurück, indem
wir dasselbe unter dem Gesichtspunkt betrachten, der im bisheri-
gen entwickelt ist.

Den Römern konnte es ihrer ganzen Natur nach nicht be-
schieden sein, lange in dem naiven Zustande der Sitte zu
verharren. Für ein Recht, das wenigstens nach seiner pri-
vatrechtlichen Seite hin, wie kein anderes, vom Selbständig-
keitstriebe beseelt war, versteht sich eine entschiedene Hinneigung
zum System des geschriebenen Rechts ganz von selbst. Es ist in
dieser Beziehung bezeichnend, daß die spätere Zeit die Einrich-
tungen der Urzeit, offenbare Naturprodukte, wenn ich so sagen
darf, auf Gesetze des Romulus und Numa zurückführte. Dem
römischen Geist erschien es als das Natürliche, daß die Reflexion
und das Bewußtsein die sittliche Welt zu gestalten oder das
Vorhandene wenigstens in Form des Gesetzes zu erfassen und
darzustellen habe (B. 1 S. 93).

Jene älteste Zeit mit ihren angeblichen Gesetzen liegt nun
außer unserm Gesichtskreise. Dagegen gibt uns das Recht der
Republik das Bild einer regen Thätigkeit der Gesetzgebung, auf
die wir aber hier im Einzelnen begreiflicherweise nicht eingehen
können. Die hervorragendste Erscheinung dieser Periode ist die
Zwölftafelgesetzgebung, die Grundlage des ganzen zweiten Sy-
stems. Im Wesentlichen enthält dieselbe nur eine Codifikation
des bestehenden Rechts, und war, wie ähnliche Erscheinungen
bei andern Völkern z. B. bei den Germanen zur Zeit der Völker-
wanderung, durch eine fühlbar gewordene Unsicherheit des
Rechts veranlaßt, wenigstens wird uns von spätern Referenten
dieses Motiv angegeben.18) In der Regel sind es bedeutende
Störungen der bisherigen Lebensverhältnisse der Völker, die
eine solche Unsicherheit und mit ihr das Bedürfniß der Codifi-
kation herbeiführen, namentlich starke Zuflüsse neuer ethnischer

18) Pomponius in L. 2 §. 3 de orig. jur. (1. 2) iterumque coepit
populus Romanus incerto magis jure et consuetudine uti, quam per le-
gem latam.
3*

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
kehren vielmehr jetzt zum ältern römiſchen Recht zurück, indem
wir daſſelbe unter dem Geſichtspunkt betrachten, der im bisheri-
gen entwickelt iſt.

Den Römern konnte es ihrer ganzen Natur nach nicht be-
ſchieden ſein, lange in dem naiven Zuſtande der Sitte zu
verharren. Für ein Recht, das wenigſtens nach ſeiner pri-
vatrechtlichen Seite hin, wie kein anderes, vom Selbſtändig-
keitstriebe beſeelt war, verſteht ſich eine entſchiedene Hinneigung
zum Syſtem des geſchriebenen Rechts ganz von ſelbſt. Es iſt in
dieſer Beziehung bezeichnend, daß die ſpätere Zeit die Einrich-
tungen der Urzeit, offenbare Naturprodukte, wenn ich ſo ſagen
darf, auf Geſetze des Romulus und Numa zurückführte. Dem
römiſchen Geiſt erſchien es als das Natürliche, daß die Reflexion
und das Bewußtſein die ſittliche Welt zu geſtalten oder das
Vorhandene wenigſtens in Form des Geſetzes zu erfaſſen und
darzuſtellen habe (B. 1 S. 93).

Jene älteſte Zeit mit ihren angeblichen Geſetzen liegt nun
außer unſerm Geſichtskreiſe. Dagegen gibt uns das Recht der
Republik das Bild einer regen Thätigkeit der Geſetzgebung, auf
die wir aber hier im Einzelnen begreiflicherweiſe nicht eingehen
können. Die hervorragendſte Erſcheinung dieſer Periode iſt die
Zwölftafelgeſetzgebung, die Grundlage des ganzen zweiten Sy-
ſtems. Im Weſentlichen enthält dieſelbe nur eine Codifikation
des beſtehenden Rechts, und war, wie ähnliche Erſcheinungen
bei andern Völkern z. B. bei den Germanen zur Zeit der Völker-
wanderung, durch eine fühlbar gewordene Unſicherheit des
Rechts veranlaßt, wenigſtens wird uns von ſpätern Referenten
dieſes Motiv angegeben.18) In der Regel ſind es bedeutende
Störungen der bisherigen Lebensverhältniſſe der Völker, die
eine ſolche Unſicherheit und mit ihr das Bedürfniß der Codifi-
kation herbeiführen, namentlich ſtarke Zuflüſſe neuer ethniſcher

18) Pomponius in L. 2 §. 3 de orig. jur. (1. 2) iterumque coepit
populus Romanus incerto magis jure et consuetudine uti, quam per le-
gem latam.
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[35/0049] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. kehren vielmehr jetzt zum ältern römiſchen Recht zurück, indem wir daſſelbe unter dem Geſichtspunkt betrachten, der im bisheri- gen entwickelt iſt. Den Römern konnte es ihrer ganzen Natur nach nicht be- ſchieden ſein, lange in dem naiven Zuſtande der Sitte zu verharren. Für ein Recht, das wenigſtens nach ſeiner pri- vatrechtlichen Seite hin, wie kein anderes, vom Selbſtändig- keitstriebe beſeelt war, verſteht ſich eine entſchiedene Hinneigung zum Syſtem des geſchriebenen Rechts ganz von ſelbſt. Es iſt in dieſer Beziehung bezeichnend, daß die ſpätere Zeit die Einrich- tungen der Urzeit, offenbare Naturprodukte, wenn ich ſo ſagen darf, auf Geſetze des Romulus und Numa zurückführte. Dem römiſchen Geiſt erſchien es als das Natürliche, daß die Reflexion und das Bewußtſein die ſittliche Welt zu geſtalten oder das Vorhandene wenigſtens in Form des Geſetzes zu erfaſſen und darzuſtellen habe (B. 1 S. 93). Jene älteſte Zeit mit ihren angeblichen Geſetzen liegt nun außer unſerm Geſichtskreiſe. Dagegen gibt uns das Recht der Republik das Bild einer regen Thätigkeit der Geſetzgebung, auf die wir aber hier im Einzelnen begreiflicherweiſe nicht eingehen können. Die hervorragendſte Erſcheinung dieſer Periode iſt die Zwölftafelgeſetzgebung, die Grundlage des ganzen zweiten Sy- ſtems. Im Weſentlichen enthält dieſelbe nur eine Codifikation des beſtehenden Rechts, und war, wie ähnliche Erſcheinungen bei andern Völkern z. B. bei den Germanen zur Zeit der Völker- wanderung, durch eine fühlbar gewordene Unſicherheit des Rechts veranlaßt, wenigſtens wird uns von ſpätern Referenten dieſes Motiv angegeben. 18) In der Regel ſind es bedeutende Störungen der bisherigen Lebensverhältniſſe der Völker, die eine ſolche Unſicherheit und mit ihr das Bedürfniß der Codifi- kation herbeiführen, namentlich ſtarke Zuflüſſe neuer ethniſcher 18) Pomponius in L. 2 §. 3 de orig. jur. (1. 2) iterumque coepit populus Romanus incerto magis jure et consuetudine uti, quam per le- gem latam. 3*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/49>, abgerufen am 19.04.2024.