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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
geringeres; sie liegt zum größten Theil schon in der Construk-
tion unseres Rechts, und was das Subjekt dazu thut, ist nichts
besonderes. Seitdem das Recht in sich selbst den Pro-
zeß der Ueberwindung des bloßen Gefühlsstand-
punktes durchgemacht hat, ist diese Arbeit dem ein-
zelnen Subjekt erspart oder wenigstens bedeutend
erleichtert
; was früher mühsam gesucht und gefunden wer-
den mußte und nur von Auserwählten gefunden ward, es liegt
jetzt offen da und läßt sich erlernen ohne großes Talent.

In demselben Maße, in dem nun ein Volk das Bedürfniß nach
Gerechtigkeit d. h. nach Gleichmäßigkeit empfindet, wird es den
Trieb in sich fühlen, sich von dem Zufall der bloß individuellen
Gerechtigkeit unabhängig zu machen, die Gerechtigkeit immer mehr
aus der Sphäre subjektiver Eingebung in das Recht selbst hinein
zu verlegen. Das Mittel dazu ist das Gesetz. Das Gesetz ist der
Akt, wodurch das Recht aus dem Zustand der Naivität heraus-
tritt und in officieller Weise zum Selbstbewußtsein gelangt.
Scheinbar ist dieser Vorgang nicht so sehr bedeutend, und doch
ruft er in seiner Verallgemeinerung eine Reihe der wichtigsten
Veränderungen im Recht selbst hervor. Jede einzelne dieser Ver-
änderungen hat ihre Kehrseite, und für den, der sich an diese
Kehrseiten hält und übersieht, daß kein Fortschritt in der Welt
davon frei ist, kann der Anschein entstehn, als ob jener primäre
Zustand doch das eigentliche Paradies, das Auftreten der Ge-
setzgebung aber den Sündenfall des Rechts bezeichne. Denn
nach allen jenen Seiten hin, nach denen früher im Recht Har-
monie und Einheit herrschte, wird dieselbe jetzt wie mit dem
Sündenfall zerrissen. Eins war früher das Recht mit dem sub-
jektiven Gefühl. Jetzt trennen sich beide; an die Stelle des sub-
jektiv Innerlichen tritt etwas objektiv Aeußerliches. Nicht das
ist mehr Rechtens, was in der Brust des Subjekts lebt, sondern
der todte Buchstabe. Eins war früher das Recht mit dem Le-
ben; wie letzteres sich bewegte und gestaltete, so auch jenes, das
Recht war nie hinter der Zeit zurück, stand nie mit ihren Bedürf-

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
geringeres; ſie liegt zum größten Theil ſchon in der Conſtruk-
tion unſeres Rechts, und was das Subjekt dazu thut, iſt nichts
beſonderes. Seitdem das Recht in ſich ſelbſt den Pro-
zeß der Ueberwindung des bloßen Gefühlsſtand-
punktes durchgemacht hat, iſt dieſe Arbeit dem ein-
zelnen Subjekt erſpart oder wenigſtens bedeutend
erleichtert
; was früher mühſam geſucht und gefunden wer-
den mußte und nur von Auserwählten gefunden ward, es liegt
jetzt offen da und läßt ſich erlernen ohne großes Talent.

In demſelben Maße, in dem nun ein Volk das Bedürfniß nach
Gerechtigkeit d. h. nach Gleichmäßigkeit empfindet, wird es den
Trieb in ſich fühlen, ſich von dem Zufall der bloß individuellen
Gerechtigkeit unabhängig zu machen, die Gerechtigkeit immer mehr
aus der Sphäre ſubjektiver Eingebung in das Recht ſelbſt hinein
zu verlegen. Das Mittel dazu iſt das Geſetz. Das Geſetz iſt der
Akt, wodurch das Recht aus dem Zuſtand der Naivität heraus-
tritt und in officieller Weiſe zum Selbſtbewußtſein gelangt.
Scheinbar iſt dieſer Vorgang nicht ſo ſehr bedeutend, und doch
ruft er in ſeiner Verallgemeinerung eine Reihe der wichtigſten
Veränderungen im Recht ſelbſt hervor. Jede einzelne dieſer Ver-
änderungen hat ihre Kehrſeite, und für den, der ſich an dieſe
Kehrſeiten hält und überſieht, daß kein Fortſchritt in der Welt
davon frei iſt, kann der Anſchein entſtehn, als ob jener primäre
Zuſtand doch das eigentliche Paradies, das Auftreten der Ge-
ſetzgebung aber den Sündenfall des Rechts bezeichne. Denn
nach allen jenen Seiten hin, nach denen früher im Recht Har-
monie und Einheit herrſchte, wird dieſelbe jetzt wie mit dem
Sündenfall zerriſſen. Eins war früher das Recht mit dem ſub-
jektiven Gefühl. Jetzt trennen ſich beide; an die Stelle des ſub-
jektiv Innerlichen tritt etwas objektiv Aeußerliches. Nicht das
iſt mehr Rechtens, was in der Bruſt des Subjekts lebt, ſondern
der todte Buchſtabe. Eins war früher das Recht mit dem Le-
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[31/0045] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. geringeres; ſie liegt zum größten Theil ſchon in der Conſtruk- tion unſeres Rechts, und was das Subjekt dazu thut, iſt nichts beſonderes. Seitdem das Recht in ſich ſelbſt den Pro- zeß der Ueberwindung des bloßen Gefühlsſtand- punktes durchgemacht hat, iſt dieſe Arbeit dem ein- zelnen Subjekt erſpart oder wenigſtens bedeutend erleichtert; was früher mühſam geſucht und gefunden wer- den mußte und nur von Auserwählten gefunden ward, es liegt jetzt offen da und läßt ſich erlernen ohne großes Talent. In demſelben Maße, in dem nun ein Volk das Bedürfniß nach Gerechtigkeit d. h. nach Gleichmäßigkeit empfindet, wird es den Trieb in ſich fühlen, ſich von dem Zufall der bloß individuellen Gerechtigkeit unabhängig zu machen, die Gerechtigkeit immer mehr aus der Sphäre ſubjektiver Eingebung in das Recht ſelbſt hinein zu verlegen. Das Mittel dazu iſt das Geſetz. Das Geſetz iſt der Akt, wodurch das Recht aus dem Zuſtand der Naivität heraus- tritt und in officieller Weiſe zum Selbſtbewußtſein gelangt. Scheinbar iſt dieſer Vorgang nicht ſo ſehr bedeutend, und doch ruft er in ſeiner Verallgemeinerung eine Reihe der wichtigſten Veränderungen im Recht ſelbſt hervor. Jede einzelne dieſer Ver- änderungen hat ihre Kehrſeite, und für den, der ſich an dieſe Kehrſeiten hält und überſieht, daß kein Fortſchritt in der Welt davon frei iſt, kann der Anſchein entſtehn, als ob jener primäre Zuſtand doch das eigentliche Paradies, das Auftreten der Ge- ſetzgebung aber den Sündenfall des Rechts bezeichne. Denn nach allen jenen Seiten hin, nach denen früher im Recht Har- monie und Einheit herrſchte, wird dieſelbe jetzt wie mit dem Sündenfall zerriſſen. Eins war früher das Recht mit dem ſub- jektiven Gefühl. Jetzt trennen ſich beide; an die Stelle des ſub- jektiv Innerlichen tritt etwas objektiv Aeußerliches. Nicht das iſt mehr Rechtens, was in der Bruſt des Subjekts lebt, ſondern der todte Buchſtabe. Eins war früher das Recht mit dem Le- ben; wie letzteres ſich bewegte und geſtaltete, ſo auch jenes, das Recht war nie hinter der Zeit zurück, ſtand nie mit ihren Bedürf-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/45>, abgerufen am 25.04.2024.