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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. -- Die Extreme. §. 24.
genwart, tyrannischen Handhabung der Rechtsconsequenz, sie ist
in der That nur die Uebertreibung einer Eigenschaft, die den
Adel und die Hoheit des Rechts ausmacht, die Verirrung nach
Seiten der Kraft, von der eine Umkehr leicht möglich ist, wäh-
rend das entgegengesetzte Extrem der gefügigen Hingebung des
Rechts an die Bewegung des Lebens das Zeichen einer morali-
schen Asthenie ist. Daß Festigkeit, unerschütterliche Ruhe, Rück-
sichtslosigkeit Cardinaltugenden des Rechts sind, das hat der
Instinkt der Völker von jeher herausgefühlt; mit Stolz geden-
ken sie der Vorfälle ihrer Geschichte, wo das Recht diese Eigen-
schaften in eclatanter Weise bewährt und selbst, so zu sagen, mit
trotzigem Uebermuth dem Leben Hohn gesprochen hat.

Wie und woran sich nun der Selbständigkeitstrieb des Rechts
äußert, das werden wir am ältern römischen Recht nachzuweisen
versuchen. Es hat vielleicht kein anderes gegeben, das so wie
dieses vom Geiste der Unabhängigkeit und ich möchte fast hinzu-
fügen des Trotzes beseelt gewesen ist, und an dem man daher
das Walten jenes Selbständigkeitstriebes so gut studiren könnte.
Worauf wir vor allem unser Augenmerk zu richten haben wer-
den, ist die innere Organisation, die Technik und Methode, durch
die das Recht seine Selbständigkeit sicherzustellen sucht. Dieser
Punkt ist bisher viel zu wenig beachtet, und das Verständniß
dafür scheint nicht so leicht zu sein, während der Zweck selbst,
der durch jenes Mittel verfolgt wird, im Allgemeinen auch dem
ungebildeten Rechtsgefühl als Postulat vorschwebt. Daß das
Recht unabhängig und selbständig sich verwirklichen soll, daß
also z. B. das religiöse und politische Glaubensbekenntniß, das
Ansehn, Verdienst, die Würdigkeit der Person, die Stellung im
Leben Niemandem schaden oder nützen, Gunst und Abneigung
keinen Einfluß äußern, das Recht gegen alle ein gleiches Maß
anwenden, daß die äußere Macht sich keine Eingriffe in das
Rechtsgebiet erlauben solle u. s. w., das fühlt Jedermann.
Aber auffallend ist es, daß nicht bloß das einfache Rechtsgefühl
sich mit dem Wege, den das Recht zu jenem Zwecke einschlägt,

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.
genwart, tyranniſchen Handhabung der Rechtsconſequenz, ſie iſt
in der That nur die Uebertreibung einer Eigenſchaft, die den
Adel und die Hoheit des Rechts ausmacht, die Verirrung nach
Seiten der Kraft, von der eine Umkehr leicht möglich iſt, wäh-
rend das entgegengeſetzte Extrem der gefügigen Hingebung des
Rechts an die Bewegung des Lebens das Zeichen einer morali-
ſchen Aſthenie iſt. Daß Feſtigkeit, unerſchütterliche Ruhe, Rück-
ſichtsloſigkeit Cardinaltugenden des Rechts ſind, das hat der
Inſtinkt der Völker von jeher herausgefühlt; mit Stolz geden-
ken ſie der Vorfälle ihrer Geſchichte, wo das Recht dieſe Eigen-
ſchaften in eclatanter Weiſe bewährt und ſelbſt, ſo zu ſagen, mit
trotzigem Uebermuth dem Leben Hohn geſprochen hat.

Wie und woran ſich nun der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts
äußert, das werden wir am ältern römiſchen Recht nachzuweiſen
verſuchen. Es hat vielleicht kein anderes gegeben, das ſo wie
dieſes vom Geiſte der Unabhängigkeit und ich möchte faſt hinzu-
fügen des Trotzes beſeelt geweſen iſt, und an dem man daher
das Walten jenes Selbſtändigkeitstriebes ſo gut ſtudiren könnte.
Worauf wir vor allem unſer Augenmerk zu richten haben wer-
den, iſt die innere Organiſation, die Technik und Methode, durch
die das Recht ſeine Selbſtändigkeit ſicherzuſtellen ſucht. Dieſer
Punkt iſt bisher viel zu wenig beachtet, und das Verſtändniß
dafür ſcheint nicht ſo leicht zu ſein, während der Zweck ſelbſt,
der durch jenes Mittel verfolgt wird, im Allgemeinen auch dem
ungebildeten Rechtsgefühl als Poſtulat vorſchwebt. Daß das
Recht unabhängig und ſelbſtändig ſich verwirklichen ſoll, daß
alſo z. B. das religiöſe und politiſche Glaubensbekenntniß, das
Anſehn, Verdienſt, die Würdigkeit der Perſon, die Stellung im
Leben Niemandem ſchaden oder nützen, Gunſt und Abneigung
keinen Einfluß äußern, das Recht gegen alle ein gleiches Maß
anwenden, daß die äußere Macht ſich keine Eingriffe in das
Rechtsgebiet erlauben ſolle u. ſ. w., das fühlt Jedermann.
Aber auffallend iſt es, daß nicht bloß das einfache Rechtsgefühl
ſich mit dem Wege, den das Recht zu jenem Zwecke einſchlägt,

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[23/0037] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24. genwart, tyranniſchen Handhabung der Rechtsconſequenz, ſie iſt in der That nur die Uebertreibung einer Eigenſchaft, die den Adel und die Hoheit des Rechts ausmacht, die Verirrung nach Seiten der Kraft, von der eine Umkehr leicht möglich iſt, wäh- rend das entgegengeſetzte Extrem der gefügigen Hingebung des Rechts an die Bewegung des Lebens das Zeichen einer morali- ſchen Aſthenie iſt. Daß Feſtigkeit, unerſchütterliche Ruhe, Rück- ſichtsloſigkeit Cardinaltugenden des Rechts ſind, das hat der Inſtinkt der Völker von jeher herausgefühlt; mit Stolz geden- ken ſie der Vorfälle ihrer Geſchichte, wo das Recht dieſe Eigen- ſchaften in eclatanter Weiſe bewährt und ſelbſt, ſo zu ſagen, mit trotzigem Uebermuth dem Leben Hohn geſprochen hat. Wie und woran ſich nun der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts äußert, das werden wir am ältern römiſchen Recht nachzuweiſen verſuchen. Es hat vielleicht kein anderes gegeben, das ſo wie dieſes vom Geiſte der Unabhängigkeit und ich möchte faſt hinzu- fügen des Trotzes beſeelt geweſen iſt, und an dem man daher das Walten jenes Selbſtändigkeitstriebes ſo gut ſtudiren könnte. Worauf wir vor allem unſer Augenmerk zu richten haben wer- den, iſt die innere Organiſation, die Technik und Methode, durch die das Recht ſeine Selbſtändigkeit ſicherzuſtellen ſucht. Dieſer Punkt iſt bisher viel zu wenig beachtet, und das Verſtändniß dafür ſcheint nicht ſo leicht zu ſein, während der Zweck ſelbſt, der durch jenes Mittel verfolgt wird, im Allgemeinen auch dem ungebildeten Rechtsgefühl als Poſtulat vorſchwebt. Daß das Recht unabhängig und ſelbſtändig ſich verwirklichen ſoll, daß alſo z. B. das religiöſe und politiſche Glaubensbekenntniß, das Anſehn, Verdienſt, die Würdigkeit der Perſon, die Stellung im Leben Niemandem ſchaden oder nützen, Gunſt und Abneigung keinen Einfluß äußern, das Recht gegen alle ein gleiches Maß anwenden, daß die äußere Macht ſich keine Eingriffe in das Rechtsgebiet erlauben ſolle u. ſ. w., das fühlt Jedermann. Aber auffallend iſt es, daß nicht bloß das einfache Rechtsgefühl ſich mit dem Wege, den das Recht zu jenem Zwecke einſchlägt,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/37>, abgerufen am 28.03.2024.