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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

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entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz-
fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung -- was gerade
schwer ist -- unter den Prägstok der Moral zu bringen. Es ist dem
eiteln Menschen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein
simples Kleid. Man solte denken, wenn man lieset, daß so viele Brami-5
nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Nase sehen,
auf Einem Beine stehen, Schlaf entrathen und die höchsten Martern an
sich fortsezen -- oder daß so viele unserer Mönche und Heiligen sich todt
geiseln, todt beten, todt hungern, -- -- man solte denken, sag' ich, solche
Aufopferungen müsten die kleinern, die die Tugend fodert, voraussezen10
und es müste eben so viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer
geben .... Und es ist doch nicht so: die Ursache ist, alle jene Büssungen,
jene Zeremonien vertragen sich leicht mit der grösten Wildnis des
Herzens und es ist viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein
einziges Reglement aus der Thora des Gewissens zu befolgen. Dazu15
macht der talmudische Sachsenspiegel den Menschen kleinlich und eng:
die edle Seele steigt über religiöse Zeremonien so gut auf als über
bürgerliche und dringt in den reinen grossen Himmel. Noch in der
andern Welt werden wir auf unsere Tugenden, Aufopferungen und
Thränen in dieser ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche20
Dinge, solche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben so gut
das Gegentheil geboten sein könte, müssen uns dort winzig erscheinen wie
die warme Erdenkruste des Körpers, an den sie gebunden sind. Ueber-
haupt hängt Ihrer sonst scharfsinnigen Nazion -- deren Physiognomie
durchgängig die scharfe mit vordringenden festen Gesichttheilen[71]25
schneidende des Scharfsins ist (ich habe noch an keinem Juden die wie
eine Wanze zerdrükte Kalmükennase bemerkt) -- etwas mikrologisches
an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Masora **) machen

*) Unter Zeremonien mein' ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das
mir nicht mein Gewissen, sondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30
Verschiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein' ich den Ge-
horsam gegen das erhabene Gesez, das von einer Zone zur andern in jedem Busen,
im braunrothen und im negerschwarzen mit gestirnten Zügen brent.
**) Dürftig ists doch, wenn der Masoreth aufsummiert, wie oft z. B. vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß r im 3 B. Mos. XI, 42. im Wort gkhovn der35
mittelste Buchstab im Pentateuch ist oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter
vorkommen.

entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz-
fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade
ſchwer iſt — unter den Prägſtok der Moral zu bringen. Es iſt dem
eiteln Menſchen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein
ſimples Kleid. Man ſolte denken, wenn man lieſet, daß ſo viele Brami-5
nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Naſe ſehen,
auf Einem Beine ſtehen, Schlaf entrathen und die höchſten Martern an
ſich fortſezen — oder daß ſo viele unſerer Mönche und Heiligen ſich todt
geiſeln, todt beten, todt hungern, — — man ſolte denken, ſag’ ich, ſolche
Aufopferungen müſten die kleinern, die die Tugend fodert, vorausſezen10
und es müſte eben ſo viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer
geben .... Und es iſt doch nicht ſo: die Urſache iſt, alle jene Büſſungen,
jene Zeremonien vertragen ſich leicht mit der gröſten Wildnis des
Herzens und es iſt viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein
einziges Reglement aus der Thora des Gewiſſens zu befolgen. Dazu15
macht der talmudiſche Sachſenſpiegel den Menſchen kleinlich und eng:
die edle Seele ſteigt über religiöſe Zeremonien ſo gut auf als über
bürgerliche und dringt in den reinen groſſen Himmel. Noch in der
andern Welt werden wir auf unſere Tugenden, Aufopferungen und
Thränen in dieſer ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche20
Dinge, ſolche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben ſo gut
das Gegentheil geboten ſein könte, müſſen uns dort winzig erſcheinen wie
die warme Erdenkruſte des Körpers, an den ſie gebunden ſind. Ueber-
haupt hängt Ihrer ſonſt ſcharfſinnigen Nazion — deren Phyſiognomie
durchgängig die ſcharfe mit vordringenden feſten Geſichttheilen[71]25
ſchneidende des Scharfſins iſt (ich habe noch an keinem Juden die wie
eine Wanze zerdrükte Kalmükennaſe bemerkt) — etwas mikrologiſches
an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Maſora **) machen

*) Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das
mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30
Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge-
horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen,
im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent.
**) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der35
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[77/0086] entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz- fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade ſchwer iſt — unter den Prägſtok der Moral zu bringen. Es iſt dem eiteln Menſchen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein ſimples Kleid. Man ſolte denken, wenn man lieſet, daß ſo viele Brami- 5 nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Naſe ſehen, auf Einem Beine ſtehen, Schlaf entrathen und die höchſten Martern an ſich fortſezen — oder daß ſo viele unſerer Mönche und Heiligen ſich todt geiſeln, todt beten, todt hungern, — — man ſolte denken, ſag’ ich, ſolche Aufopferungen müſten die kleinern, die die Tugend fodert, vorausſezen 10 und es müſte eben ſo viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer geben .... Und es iſt doch nicht ſo: die Urſache iſt, alle jene Büſſungen, jene Zeremonien vertragen ſich leicht mit der gröſten Wildnis des Herzens und es iſt viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein einziges Reglement aus der Thora des Gewiſſens zu befolgen. Dazu 15 macht der talmudiſche Sachſenſpiegel den Menſchen kleinlich und eng: die edle Seele ſteigt über religiöſe Zeremonien ſo gut auf als über bürgerliche und dringt in den reinen groſſen Himmel. Noch in der andern Welt werden wir auf unſere Tugenden, Aufopferungen und Thränen in dieſer ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche 20 Dinge, ſolche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben ſo gut das Gegentheil geboten ſein könte, müſſen uns dort winzig erſcheinen wie die warme Erdenkruſte des Körpers, an den ſie gebunden ſind. Ueber- haupt hängt Ihrer ſonſt ſcharfſinnigen Nazion — deren Phyſiognomie durchgängig die ſcharfe mit vordringenden feſten Geſichttheilen 25 ſchneidende des Scharfſins iſt (ich habe noch an keinem Juden die wie eine Wanze zerdrükte Kalmükennaſe bemerkt) — etwas mikrologiſches an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Maſora **) machen [71] *) Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle 30 Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge- horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen, im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent. **) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor- kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der 35 mittelſte Buchſtab im Pentateuch iſt oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter vorkommen.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

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Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/86>, abgerufen am 29.03.2024.