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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

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Gesangs; vorgestern war ich nachmittags bei ihnen zum erstenmal,
im bunten Dunstkreise fast lauter schöner Mädgen. -- Sogar in
Paris sol nicht so viel Freiheit von gene sein als hier: du führst
niemand, du küssest keine Hand (du müstest denn dabei nicht aufhören
wollen) du machst blos eine stumme Verbeugung, du sagst vor und5
nach dem Essen nichts. Das ist der Ton des Adels, der des Bürgers sol
wie meine Halsbinden oft gesteift und gestärkt sein. -- Apropos
Mazdorf hat mich den 4ten Jun. zu Gevatter gebeten: ich führe also
an jeder Hand eine Paulline.

Worüber man hier klagt, ist geschminkter Egoismus und unge-10
schminkter Unglaube -- darum thut ihnen eine Seele, die beides nicht
hat, so wol wie ein warmer Tag.

Binde Fantaisie und Eremitage in Einen Park zusammen: du
hast keine Vorstellung von dem majestätischen einfachen hiesigen. Er
ist ein Händelsches AlexandersAriadnefest, und Tiefurth ein15
Adagio. --

Oertel in Leipzig kömt nach Hof, besonders um einen Freund mehr
zu gewinnen, dich. O seine Bücher und seine Schiksale sind die Insignien
und Meritorden der edelsten festesten Seele! --

Aus unserm Begegnen in Schleiz wird wol nichts, weil ich dir20
unmöglich wegen der verdamten langen Post auf so lange Zeit vor-
ausschreiben kan -- weil ich jezt 2 Tage nach Jena reise und zurükkehre
und nachher wieder mit dem Überrok durchreise, ohne zu wissen, wie
lange ich mich da verweile.

[213]Der Teufel sizt in mir -- ich kan gar nicht weg -- ich zähle keine25
Tage mehr, ich lebe auf dem fixen unbeweglichen Punkt Pol der be-
weglichen Kugel -- es wird mir bange, wenn ich ans beschliessen
denke. Ach ich bin so glüklich, daß nur du verdienen kontest, es so zu
sein.

Meine Grüsse an alle.30

Es ist nicht schön, daß du mir nicht geschrieben hast. Künftig
werd ich mich nur zu einem epistolarischen Tauschhandel verstehen.

Ich denke denn doch daß ich, wenn der lange Tag und der Frühling
vorüber ist, auch meinen schönsten beschliessen werde und kurz hinter
dem 1ten Sommertag nach Hof kommen werde.35

Dein, dein, dein Bruder
Richter

Geſangs; vorgeſtern war ich nachmittags bei ihnen zum erſtenmal,
im bunten Dunſtkreiſe faſt lauter ſchöner Mädgen. — Sogar in
Paris ſol nicht ſo viel Freiheit von gêne ſein als hier: du führſt
niemand, du küſſeſt keine Hand (du müſteſt denn dabei nicht aufhören
wollen) du machſt blos eine ſtumme Verbeugung, du ſagſt vor und5
nach dem Eſſen nichts. Das iſt der Ton des Adels, der des Bürgers ſol
wie meine Halsbinden oft geſteift und geſtärkt ſein. — Apropos
Mazdorf hat mich den 4ten Jun. zu Gevatter gebeten: ich führe alſo
an jeder Hand eine Paulline.

Worüber man hier klagt, iſt geſchminkter Egoiſmus und unge-10
ſchminkter Unglaube — darum thut ihnen eine Seele, die beides nicht
hat, ſo wol wie ein warmer Tag.

Binde Fantaisie und Eremitage in Einen Park zuſammen: du
haſt keine Vorſtellung von dem majeſtätiſchen einfachen hieſigen. Er
iſt ein Händelſches Alexanders〈Ariadne〉feſt, und Tiefurth ein15
Adagio. —

Oertel in Leipzig kömt nach Hof, beſonders um einen Freund mehr
zu gewinnen, dich. O ſeine Bücher und ſeine Schikſale ſind die Inſignien
und Meritorden der edelſten feſteſten Seele! —

Aus unſerm Begegnen in Schleiz wird wol nichts, weil ich dir20
unmöglich wegen der verdamten langen Poſt auf ſo lange Zeit vor-
ausſchreiben kan — weil ich jezt 2 Tage nach Jena reiſe und zurükkehre
und nachher wieder mit dem Überrok durchreiſe, ohne zu wiſſen, wie
lange ich mich da verweile.

[213]Der Teufel ſizt in mir — ich kan gar nicht weg — ich zähle keine25
Tage mehr, ich lebe auf dem fixen unbeweglichen Punkt 〈Pol〉 der be-
weglichen Kugel — es wird mir bange, wenn ich ans beſchlieſſen
denke. Ach ich bin ſo glüklich, daß nur du verdienen konteſt, es ſo zu
ſein.

Meine Grüſſe an alle.30

Es iſt nicht ſchön, daß du mir nicht geſchrieben haſt. Künftig
werd ich mich nur zu einem epiſtolariſchen Tauſchhandel verſtehen.

Ich denke denn doch daß ich, wenn der lange Tag und der Frühling
vorüber iſt, auch meinen ſchönſten beſchlieſſen werde und kurz hinter
dem 1ten Sommertag nach Hof kommen werde.35

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[214/0228] Geſangs; vorgeſtern war ich nachmittags bei ihnen zum erſtenmal, im bunten Dunſtkreiſe faſt lauter ſchöner Mädgen. — Sogar in Paris ſol nicht ſo viel Freiheit von gêne ſein als hier: du führſt niemand, du küſſeſt keine Hand (du müſteſt denn dabei nicht aufhören wollen) du machſt blos eine ſtumme Verbeugung, du ſagſt vor und 5 nach dem Eſſen nichts. Das iſt der Ton des Adels, der des Bürgers ſol wie meine Halsbinden oft geſteift und geſtärkt ſein. — Apropos Mazdorf hat mich den 4ten Jun. zu Gevatter gebeten: ich führe alſo an jeder Hand eine Paulline. Worüber man hier klagt, iſt geſchminkter Egoiſmus und unge- 10 ſchminkter Unglaube — darum thut ihnen eine Seele, die beides nicht hat, ſo wol wie ein warmer Tag. Binde Fantaisie und Eremitage in Einen Park zuſammen: du haſt keine Vorſtellung von dem majeſtätiſchen einfachen hieſigen. Er iſt ein Händelſches Alexanders〈Ariadne〉feſt, und Tiefurth ein 15 Adagio. — Oertel in Leipzig kömt nach Hof, beſonders um einen Freund mehr zu gewinnen, dich. O ſeine Bücher und ſeine Schikſale ſind die Inſignien und Meritorden der edelſten feſteſten Seele! — Aus unſerm Begegnen in Schleiz wird wol nichts, weil ich dir 20 unmöglich wegen der verdamten langen Poſt auf ſo lange Zeit vor- ausſchreiben kan — weil ich jezt 2 Tage nach Jena reiſe und zurükkehre und nachher wieder mit dem Überrok durchreiſe, ohne zu wiſſen, wie lange ich mich da verweile. Der Teufel ſizt in mir — ich kan gar nicht weg — ich zähle keine 25 Tage mehr, ich lebe auf dem fixen unbeweglichen Punkt 〈Pol〉 der be- weglichen Kugel — es wird mir bange, wenn ich ans beſchlieſſen denke. Ach ich bin ſo glüklich, daß nur du verdienen konteſt, es ſo zu ſein. [213] Meine Grüſſe an alle. 30 Es iſt nicht ſchön, daß du mir nicht geſchrieben haſt. Künftig werd ich mich nur zu einem epiſtolariſchen Tauſchhandel verſtehen. Ich denke denn doch daß ich, wenn der lange Tag und der Frühling vorüber iſt, auch meinen ſchönſten beſchlieſſen werde und kurz hinter dem 1ten Sommertag nach Hof kommen werde. 35 Dein, dein, dein Bruder Richter

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/228>, abgerufen am 19.04.2024.