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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

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Gleichwol thut mir das schleichende Nervenfieber in Ihrer Seele
weh, weil es dagegen nur Einen Arzt und gerade den giebt, den der
Mensch nie braucht -- Sie selber. Ihr "Absterben und Abstumpfen
der Gefühle" ist gerade -- das Gegentheil. Die Wage ruht, wenn leere
Schaalen, aber auch, wenn gleiche Lasten an ihr hängen: Sie haben5
nämlich nicht absterbende sondern gesättigte Gefühle. Es fehlet ihnen
nicht die Wärme, sondern der Stof. Es ist der höchste Grad von Lebens-
kraft, wenn -- anstat daß sonst das Bedürfnis die Wünsche macht --
umgekehrt die Wünsche das Bedürfnis machen. Sie sehnen sich nach der
Sehnsucht. Leider (oder gotlob) wird Ihre Seele wie meine, von Jahr10
zu Jahr nur wunder und weicher. Stellen Sie sich jezt zum Beweis nur
einen äusserst fröhlichen oder trüben Zufal vor, der sich plözlich auf
Ihrem Lebenswege aufrichtete, und sehen Sie, wie Ihr Inneres
[146]schlagen, zucken, bluten oder wallen wird. Sie haben es gewohnt,
immer von der nächsten Zukunft zu erwarten oder zu befürchten: da15
aber jezt jede nächste hinter ihrem sehr transparenten Schleier Ihnen
Ruhe und Friede zeigt, so verliert Ihre nur in Unruhe sich fühlende
Seele über die Ruhe die Ruhe. Eines Theils brauchen Sie einen eignen
Kreis vol mehrerer Pflichten; andern Theils brauchen Sie stat der
Erde den -- Himmel. Ihnen wie allen idealischen Menschen wird auf20
der begränzten Erde die begränzte Brust vol unbegränzter Wünsche zu
enge. Daran ist nicht Hof, sondern die Erde schuld. Horchen Sie
auf Ihre leisesten Antworten: sie werden Ihnen die jezige Un-
zufriedenheit in jeder Lage versichern, die Sie sich -- träumen. Denken
Sie mehr auf fremdes Glük, so wird Ihr eignes näher rücken.25
Sie bedürfen zu Ihrem Glük ein unendlich entferntes Ziel: es
giebt nur 2 solche, die Tugend und die -- Wissenschaften. Diese un-
erschöpflichen erschöpfen und erfüllen den Menschen: daher rieth ich
Ihnen schon vor einem Jahre diese als das beste Mittel gegen
geistige Ueberfüllung an.30

(N. S. Sie können mir einwenden, Ihre Sorge komme noch von
einer zweiten Sorge her; aber diese zweite unbestimte würde ohne die
Ueberfüllung keinen Eindruk machen.)

Sie folgen noch überal zu sehr Ihren stürmenden Gefühlen und
können daher die Ewigkeit keines Ihrer Zustände verbürgen. Sehen35
Sie den Abstand, den zwischen diesen eine einzige Musik macht. So
sind Sie gewis nach dem wärmsten Briefe, eben weil Sie sich aus-

Gleichwol thut mir das ſchleichende Nervenfieber in Ihrer Seele
weh, weil es dagegen nur Einen Arzt und gerade den giebt, den der
Menſch nie braucht — Sie ſelber. Ihr „Abſterben und Abſtumpfen
der Gefühle“ iſt gerade — das Gegentheil. Die Wage ruht, wenn leere
Schaalen, aber auch, wenn gleiche Laſten an ihr hängen: Sie haben5
nämlich nicht abſterbende ſondern geſättigte Gefühle. Es fehlet ihnen
nicht die Wärme, ſondern der Stof. Es iſt der höchſte Grad von Lebens-
kraft, wenn — anſtat daß ſonſt das Bedürfnis die Wünſche macht —
umgekehrt die Wünſche das Bedürfnis machen. Sie ſehnen ſich nach der
Sehnſucht. Leider (oder gotlob) wird Ihre Seele wie meine, von Jahr10
zu Jahr nur wunder und weicher. Stellen Sie ſich jezt zum Beweis nur
einen äuſſerſt fröhlichen oder trüben Zufal vor, der ſich plözlich auf
Ihrem Lebenswege aufrichtete, und ſehen Sie, wie Ihr Inneres
[146]ſchlagen, zucken, bluten oder wallen wird. Sie haben es gewohnt,
immer von der nächſten Zukunft zu erwarten oder zu befürchten: da15
aber jezt jede nächſte hinter ihrem ſehr transparenten Schleier Ihnen
Ruhe und Friede zeigt, ſo verliert Ihre nur in Unruhe ſich fühlende
Seele über die Ruhe die Ruhe. Eines Theils brauchen Sie einen eignen
Kreis vol mehrerer Pflichten; andern Theils brauchen Sie ſtat der
Erde den — Himmel. Ihnen wie allen idealiſchen Menſchen wird auf20
der begränzten Erde die begränzte Bruſt vol unbegränzter Wünſche zu
enge. Daran iſt nicht Hof, ſondern die Erde ſchuld. Horchen Sie
auf Ihre leiſeſten Antworten: ſie werden Ihnen die jezige Un-
zufriedenheit in jeder Lage verſichern, die Sie ſich — träumen. Denken
Sie mehr auf fremdes Glük, ſo wird Ihr eignes näher rücken.25
Sie bedürfen zu Ihrem Glük ein unendlich entferntes Ziel: es
giebt nur 2 ſolche, die Tugend und die — Wiſſenſchaften. Dieſe un-
erſchöpflichen erſchöpfen und erfüllen den Menſchen: daher rieth ich
Ihnen ſchon vor einem Jahre dieſe als das beſte Mittel gegen
geiſtige Ueberfüllung an.30

(N. S. Sie können mir einwenden, Ihre Sorge komme noch von
einer zweiten Sorge her; aber dieſe zweite unbeſtimte würde ohne die
Ueberfüllung keinen Eindruk machen.)

Sie folgen noch überal zu ſehr Ihren ſtürmenden Gefühlen und
können daher die Ewigkeit keines Ihrer Zuſtände verbürgen. Sehen35
Sie den Abſtand, den zwiſchen dieſen eine einzige Muſik macht. So
ſind Sie gewis nach dem wärmſten Briefe, eben weil Sie ſich aus-

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[148/0159] Gleichwol thut mir das ſchleichende Nervenfieber in Ihrer Seele weh, weil es dagegen nur Einen Arzt und gerade den giebt, den der Menſch nie braucht — Sie ſelber. Ihr „Abſterben und Abſtumpfen der Gefühle“ iſt gerade — das Gegentheil. Die Wage ruht, wenn leere Schaalen, aber auch, wenn gleiche Laſten an ihr hängen: Sie haben 5 nämlich nicht abſterbende ſondern geſättigte Gefühle. Es fehlet ihnen nicht die Wärme, ſondern der Stof. Es iſt der höchſte Grad von Lebens- kraft, wenn — anſtat daß ſonſt das Bedürfnis die Wünſche macht — umgekehrt die Wünſche das Bedürfnis machen. Sie ſehnen ſich nach der Sehnſucht. Leider (oder gotlob) wird Ihre Seele wie meine, von Jahr 10 zu Jahr nur wunder und weicher. Stellen Sie ſich jezt zum Beweis nur einen äuſſerſt fröhlichen oder trüben Zufal vor, der ſich plözlich auf Ihrem Lebenswege aufrichtete, und ſehen Sie, wie Ihr Inneres ſchlagen, zucken, bluten oder wallen wird. Sie haben es gewohnt, immer von der nächſten Zukunft zu erwarten oder zu befürchten: da 15 aber jezt jede nächſte hinter ihrem ſehr transparenten Schleier Ihnen Ruhe und Friede zeigt, ſo verliert Ihre nur in Unruhe ſich fühlende Seele über die Ruhe die Ruhe. Eines Theils brauchen Sie einen eignen Kreis vol mehrerer Pflichten; andern Theils brauchen Sie ſtat der Erde den — Himmel. Ihnen wie allen idealiſchen Menſchen wird auf 20 der begränzten Erde die begränzte Bruſt vol unbegränzter Wünſche zu enge. Daran iſt nicht Hof, ſondern die Erde ſchuld. Horchen Sie auf Ihre leiſeſten Antworten: ſie werden Ihnen die jezige Un- zufriedenheit in jeder Lage verſichern, die Sie ſich — träumen. Denken Sie mehr auf fremdes Glük, ſo wird Ihr eignes näher rücken. 25 Sie bedürfen zu Ihrem Glük ein unendlich entferntes Ziel: es giebt nur 2 ſolche, die Tugend und die — Wiſſenſchaften. Dieſe un- erſchöpflichen erſchöpfen und erfüllen den Menſchen: daher rieth ich Ihnen ſchon vor einem Jahre dieſe als das beſte Mittel gegen geiſtige Ueberfüllung an. 30 [146](N. S. Sie können mir einwenden, Ihre Sorge komme noch von einer zweiten Sorge her; aber dieſe zweite unbeſtimte würde ohne die Ueberfüllung keinen Eindruk machen.) Sie folgen noch überal zu ſehr Ihren ſtürmenden Gefühlen und können daher die Ewigkeit keines Ihrer Zuſtände verbürgen. Sehen 35 Sie den Abſtand, den zwiſchen dieſen eine einzige Muſik macht. So ſind Sie gewis nach dem wärmſten Briefe, eben weil Sie ſich aus-

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/159>, abgerufen am 19.04.2024.