Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

Bild:
<< vorherige Seite

fernung, 3) wegen seiner Unzufriedenheit mit dem vornehmen Leben,
weil Misanthropie leicht Mutter oder Schwester der Liebe ist, 4) wegen
Flamin, der immer nach St. Lüne geht und nach und nach (auf hundert
Wegen) sich mit dem angenehmen Sauerteig der beobachtenden
Eifersucht ausschmükt; diese Eifersucht vermehrt im Bastian (närrischer5
Kauz!) gerade das, wogegen sie ist.



441. An Renate Wirth.

Meine theuerste Freundin,
10

Es ist närrisch, daß ich gestern ankomme -- morgen abgehe -- und
heute doch schreibe -- da ich wol eher nach Schwarzenbach komme als
der Brief nach Hof. Mein und Ihr Schwestergen und der Bruder
tranken in Gefrees neben einander Kaffee -- auf dem ganzen Wege bis
an die Hauptwache liefen unsre Kutschen neben einander. Ein Zufal! --15
Da ich abends um 8 den Sohn des schwarzenbacher Pfarrers zum
Stiftsamtman Völkel einlogiere: wohnt der gerade über dem Kopfe --
Ihrer F[rau] Tante. Zweiter Zufal! Der gute Himmel stekt mir wie es
scheint alle Blumen in die Chausseen wo sonst keine gedeihen; mein
Himmel nach dem Tode wird in einem steten Reisen durch den Himmel20
bestehen. --

Das Jämmerlichste ist bei allen dem daß meine Zunge und meine
Feder sich herumbeissen, wer Ihnen erzählen sol: -- -- dasmal wird
die Feder Herr.

Es giesset der Himmel jezt, und meine Feder sols auch so machen.25

Der ganze Tag steht vor mir hin mit lauter Visitten wie mit
Trachten besezt -- Es ist nichts schöners als so (wie ichs mache) zur
Thüre hineinfahren -- die Person zum erstenmal sehen -- ihr einen
geliebten Brief hingeben -- in drei Minuten bekant werden -- in
fünf Minuten lustig werden -- und in achten verliebt -- --30

Schütten Sie alle liebe Bayreutherinnen zu einem Kornhaufen
zusammen -- die Bayreuther sind nur Kornwürmer --: so wil ich sie
[421]leichter alle kommandieren als die Vorstädterinnen in Hof; denn sie
schicken sich eher ins Tolle als Höfer, die eigentlich keine Städter,
sondern nur Vorstädter, nur Altstädter sind.35


fernung, 3) wegen ſeiner Unzufriedenheit mit dem vornehmen Leben,
weil Miſanthropie leicht Mutter oder Schweſter der Liebe iſt, 4) wegen
Flamin, der immer nach St. Lüne geht und nach und nach (auf hundert
Wegen) ſich mit dem angenehmen Sauerteig der beobachtenden
Eiferſucht ausſchmükt; dieſe Eiferſucht vermehrt im Baſtian (närriſcher5
Kauz!) gerade das, wogegen ſie iſt.



441. An Renate Wirth.

Meine theuerſte Freundin,
10

Es iſt närriſch, daß ich geſtern ankomme — morgen abgehe — und
heute doch ſchreibe — da ich wol eher nach Schwarzenbach komme als
der Brief nach Hof. Mein und Ihr Schweſtergen und der Bruder
tranken in Gefrees neben einander Kaffee — auf dem ganzen Wege bis
an die Hauptwache liefen unſre Kutſchen neben einander. Ein Zufal! —15
Da ich abends um 8 den Sohn des ſchwarzenbacher Pfarrers zum
Stiftsamtman Völkel einlogiere: wohnt der gerade über dem Kopfe —
Ihrer F[rau] Tante. Zweiter Zufal! Der gute Himmel ſtekt mir wie es
ſcheint alle Blumen in die Chausseen wo ſonſt keine gedeihen; mein
Himmel nach dem Tode wird in einem ſteten Reiſen durch den Himmel20
beſtehen. —

Das Jämmerlichſte iſt bei allen dem daß meine Zunge und meine
Feder ſich herumbeiſſen, wer Ihnen erzählen ſol: — — dasmal wird
die Feder Herr.

Es gieſſet der Himmel jezt, und meine Feder ſols auch ſo machen.25

Der ganze Tag ſteht vor mir hin mit lauter Viſitten wie mit
Trachten beſezt — Es iſt nichts ſchöners als ſo (wie ichs mache) zur
Thüre hineinfahren — die Perſon zum erſtenmal ſehen — ihr einen
geliebten Brief hingeben — in drei Minuten bekant werden — in
fünf Minuten luſtig werden — und in achten verliebt — —30

Schütten Sie alle liebe Bayreutherinnen zu einem Kornhaufen
zuſammen — die Bayreuther ſind nur Kornwürmer —: ſo wil ich ſie
[421]leichter alle kommandieren als die Vorſtädterinnen in Hof; denn ſie
ſchicken ſich eher ins Tolle als Höfer, die eigentlich keine Städter,
ſondern nur Vorſtädter, nur Altſtädter ſind.35


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0428" n="400"/>
fernung, 3) wegen &#x017F;einer Unzufriedenheit mit dem vornehmen Leben,<lb/>
weil Mi&#x017F;anthropie leicht Mutter oder Schwe&#x017F;ter der Liebe i&#x017F;t, 4) wegen<lb/>
Flamin, der immer nach St. Lüne geht und nach und nach (auf hundert<lb/>
Wegen) &#x017F;ich mit dem angenehmen Sauerteig der beobachtenden<lb/>
Eifer&#x017F;ucht aus&#x017F;chmükt; die&#x017F;e Eifer&#x017F;ucht vermehrt im Ba&#x017F;tian (närri&#x017F;cher<lb n="5"/>
Kauz!) gerade das, wogegen &#x017F;ie i&#x017F;t.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>441. An <hi rendition="#g">Renate Wirth.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Bayreuth d. 3 Sept.</hi> 93.<lb/>
Dien&#x017F;tag früh um fünf Uhr.</hi> </dateline><lb/>
        <opener>
          <salute> <hi rendition="#et">Meine theuer&#x017F;te Freundin,</hi> </salute>
        </opener>
        <lb n="10"/>
        <p>Es i&#x017F;t närri&#x017F;ch, daß ich ge&#x017F;tern ankomme &#x2014; morgen abgehe &#x2014; und<lb/>
heute doch &#x017F;chreibe &#x2014; da ich wol eher nach Schwarzenbach komme als<lb/>
der Brief nach Hof. Mein und Ihr Schwe&#x017F;tergen und der Bruder<lb/>
tranken in Gefrees neben einander Kaffee &#x2014; auf dem ganzen Wege bis<lb/>
an die Hauptwache liefen un&#x017F;re Kut&#x017F;chen neben einander. <hi rendition="#g">Ein</hi> Zufal! &#x2014;<lb n="15"/>
Da ich abends um 8 den Sohn des &#x017F;chwarzenbacher Pfarrers zum<lb/>
Stiftsamtman Völkel einlogiere: wohnt der gerade über dem Kopfe &#x2014;<lb/>
Ihrer F<metamark>[</metamark>rau<metamark>]</metamark> Tante. Zweiter Zufal! Der gute Himmel &#x017F;tekt mir wie es<lb/>
&#x017F;cheint alle Blumen in die <hi rendition="#aq">Chausseen</hi> wo &#x017F;on&#x017F;t keine gedeihen; mein<lb/>
Himmel nach dem Tode wird in einem &#x017F;teten Rei&#x017F;en durch den Himmel<lb n="20"/>
be&#x017F;tehen. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Das Jämmerlich&#x017F;te i&#x017F;t bei allen dem daß meine Zunge und meine<lb/>
Feder &#x017F;ich herumbei&#x017F;&#x017F;en, wer Ihnen erzählen &#x017F;ol: &#x2014; &#x2014; dasmal wird<lb/>
die Feder Herr.</p><lb/>
        <p>Es gie&#x017F;&#x017F;et der Himmel jezt, und meine Feder &#x017F;ols auch &#x017F;o machen.<lb n="25"/>
</p>
        <p>Der ganze Tag &#x017F;teht vor mir hin mit lauter Vi&#x017F;itten wie mit<lb/>
Trachten be&#x017F;ezt &#x2014; Es i&#x017F;t nichts &#x017F;chöners als &#x017F;o (wie ichs mache) zur<lb/>
Thüre hineinfahren &#x2014; die Per&#x017F;on zum er&#x017F;tenmal &#x017F;ehen &#x2014; ihr einen<lb/>
geliebten Brief hingeben &#x2014; in drei Minuten bekant werden &#x2014; in<lb/>
fünf Minuten lu&#x017F;tig werden &#x2014; und in achten verliebt &#x2014; &#x2014;<lb n="30"/>
</p>
        <p>Schütten Sie alle liebe Bayreutherinnen zu einem Kornhaufen<lb/>
zu&#x017F;ammen &#x2014; die Bayreuther &#x017F;ind nur Kornwürmer &#x2014;: &#x017F;o wil ich &#x017F;ie<lb/><note place="left"><ref target="1922_Bd#_421">[421]</ref></note>leichter alle kommandieren als die Vor&#x017F;tädterinnen in Hof; denn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;chicken &#x017F;ich eher ins Tolle als Höfer, die eigentlich keine Städter,<lb/>
&#x017F;ondern nur Vor&#x017F;tädter, nur Alt&#x017F;tädter &#x017F;ind.<lb n="35"/>
</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0428] fernung, 3) wegen ſeiner Unzufriedenheit mit dem vornehmen Leben, weil Miſanthropie leicht Mutter oder Schweſter der Liebe iſt, 4) wegen Flamin, der immer nach St. Lüne geht und nach und nach (auf hundert Wegen) ſich mit dem angenehmen Sauerteig der beobachtenden Eiferſucht ausſchmükt; dieſe Eiferſucht vermehrt im Baſtian (närriſcher 5 Kauz!) gerade das, wogegen ſie iſt. 441. An Renate Wirth. Bayreuth d. 3 Sept. 93. Dienſtag früh um fünf Uhr. Meine theuerſte Freundin, 10 Es iſt närriſch, daß ich geſtern ankomme — morgen abgehe — und heute doch ſchreibe — da ich wol eher nach Schwarzenbach komme als der Brief nach Hof. Mein und Ihr Schweſtergen und der Bruder tranken in Gefrees neben einander Kaffee — auf dem ganzen Wege bis an die Hauptwache liefen unſre Kutſchen neben einander. Ein Zufal! — 15 Da ich abends um 8 den Sohn des ſchwarzenbacher Pfarrers zum Stiftsamtman Völkel einlogiere: wohnt der gerade über dem Kopfe — Ihrer F[rau] Tante. Zweiter Zufal! Der gute Himmel ſtekt mir wie es ſcheint alle Blumen in die Chausseen wo ſonſt keine gedeihen; mein Himmel nach dem Tode wird in einem ſteten Reiſen durch den Himmel 20 beſtehen. — Das Jämmerlichſte iſt bei allen dem daß meine Zunge und meine Feder ſich herumbeiſſen, wer Ihnen erzählen ſol: — — dasmal wird die Feder Herr. Es gieſſet der Himmel jezt, und meine Feder ſols auch ſo machen. 25 Der ganze Tag ſteht vor mir hin mit lauter Viſitten wie mit Trachten beſezt — Es iſt nichts ſchöners als ſo (wie ichs mache) zur Thüre hineinfahren — die Perſon zum erſtenmal ſehen — ihr einen geliebten Brief hingeben — in drei Minuten bekant werden — in fünf Minuten luſtig werden — und in achten verliebt — — 30 Schütten Sie alle liebe Bayreutherinnen zu einem Kornhaufen zuſammen — die Bayreuther ſind nur Kornwürmer —: ſo wil ich ſie leichter alle kommandieren als die Vorſtädterinnen in Hof; denn ſie ſchicken ſich eher ins Tolle als Höfer, die eigentlich keine Städter, ſondern nur Vorſtädter, nur Altſtädter ſind. 35 [421]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/428
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/428>, abgerufen am 29.03.2024.