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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

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nicht malen kan, ohne sie zu haben... Sie sehen Wieland durch seinen
litterarischen Dunstkreis, der soviel Flecken, Höfe und blasse Neben-
sonnen um ihn bildet, hindurch in seiner nakten Sonnengrösse. Ver-
änderliche Menschen werden am leichtesten verkant und am ersten für
falsch verschrieen; daher wurden seine Lobredner so oft an ihm irre5
und es hättens doch blos seine Tadler werden sollen... Bildung ist wie
das frühere Erziehen nicht Vergrössern irgend einer Seelenkraft
sondern Lenken derselben. Ich mag es nicht Entwiklung nennen.
100 mal thut man [ihr] die Ehre, ihr eine Entwiklung der Kräfte an-
zurechnen, die blos das Werk des Wachsens an Leib und Seele ist. Es10
ist geradeso als [wenn] man der Kindermagd und ihrem Brei und
ihrem Laufband das Wachsen und Gehen des Kindes beimässe: beides
wäre ia doch ohne die Kindermagd, nur aber später gekommen (ich
wikle mich aus einer Untersuchung in die andre). An ganz dummen,
bösen Kindern zerschellet alle Erziehung und an ganz geniemässigen15
auch (wiewol man sie gerade als entgegengesezte Beispiele vorführt,
weil man das Werk ihres Genies zum Werk des Genies des Lehrers
macht), am Mittelschlag weniger. Das Meiste und Beste, was die gute
Erziehung kan, ist, die schlimme auszulöschen und sie schnellet nicht
das Kind über den Weg seiner Entwiklung hin sondern wirft nur die20
aufhaltenden Steine aus dem Weg. Was thut am Ende die Erziehung?
zum Scheine viel, weil der Eleve Sprachen etc. kan, und der Bauer-
junge nicht; aber diese Verschiedenheit der Gegenstände, woran beide
ihre Kräfte schleifen, giebt nicht verhältnismässige Verschiedenheit
der Ausbildung. Der Bauer hat am Donnerstag seine Rechenstunde;25
am Sontag Nachmittags seine Übungen in Wiz und Laune etc. Wir
glauben immer, nur Lehren bilde aus, stat Thun, da doch ein Kar-
touche, der die feinsten diebischen Kriegsoperazionen entwirft, ein
grösseres Feuer unter seiner Phantasie anmacht als der Komödien-
schreiber, der sich zur Erfindung der nämlichen Entwürfe für seine30
Rollen anstrengt -- Ich weis nicht mehr, unter welchem Grade von
Breite oder gar Länge meiner Materie ich herumschiffe, soweit ver-[307]
schlag' ich mich -- Soviel seh' ich (so wenig seh' ich in der ganzen
Sache hel und ich wil Ihr Auge als Lorgnette) daß wenn ich die
Wirkung einer schlimmen Erziehung glaube, [ich] auch die einer guten35
einräume, daß wenn ieder Mensch den Geruch des Jahrhunderts und
Volks annimt, in dem er lebt, auch der einzelne Erzieher an ihm müsse

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nicht malen kan, ohne ſie zu haben... Sie ſehen Wieland durch ſeinen
litterariſchen Dunſtkreis, der ſoviel Flecken, Höfe und blaſſe Neben-
ſonnen um ihn bildet, hindurch in ſeiner nakten Sonnengröſſe. Ver-
änderliche Menſchen werden am leichteſten verkant und am erſten für
falſch verſchrieen; daher wurden ſeine Lobredner ſo oft an ihm irre5
und es hättens doch blos ſeine Tadler werden ſollen... Bildung iſt wie
das frühere Erziehen nicht Vergröſſern irgend einer Seelenkraft
ſondern Lenken derſelben. Ich mag es nicht Entwiklung nennen.
100 mal thut man [ihr] die Ehre, ihr eine Entwiklung der Kräfte an-
zurechnen, die blos das Werk des Wachſens an Leib und Seele iſt. Es10
iſt geradeſo als [wenn] man der Kindermagd und ihrem Brei und
ihrem Laufband das Wachſen und Gehen des Kindes beimäſſe: beides
wäre ia doch ohne die Kindermagd, nur aber ſpäter gekommen (ich
wikle mich aus einer Unterſuchung in die andre). An ganz dummen,
böſen Kindern zerſchellet alle Erziehung und an ganz geniemäſſigen15
auch (wiewol man ſie gerade als entgegengeſezte Beiſpiele vorführt,
weil man das Werk ihres Genies zum Werk des Genies des Lehrers
macht), am Mittelſchlag weniger. Das Meiſte und Beſte, was die gute
Erziehung kan, iſt, die ſchlimme auszulöſchen und ſie ſchnellet nicht
das Kind über den Weg ſeiner Entwiklung hin ſondern wirft nur die20
aufhaltenden Steine aus dem Weg. Was thut am Ende die Erziehung?
zum Scheine viel, weil der Eleve Sprachen ꝛc. kan, und der Bauer-
junge nicht; aber dieſe Verſchiedenheit der Gegenſtände, woran beide
ihre Kräfte ſchleifen, giebt nicht verhältnismäſſige Verſchiedenheit
der Ausbildung. Der Bauer hat am Donnerſtag ſeine Rechenſtunde;25
am Sontag Nachmittags ſeine Übungen in Wiz und Laune ꝛc. Wir
glauben immer, nur Lehren bilde aus, ſtat Thun, da doch ein Kar-
touche, der die feinſten diebiſchen Kriegsoperazionen entwirft, ein
gröſſeres Feuer unter ſeiner Phantaſie anmacht als der Komödien-
ſchreiber, der ſich zur Erfindung der nämlichen Entwürfe für ſeine30
Rollen anſtrengt — Ich weis nicht mehr, unter welchem Grade von
Breite oder gar Länge meiner Materie ich herumſchiffe, ſoweit ver-[307]
ſchlag’ ich mich — Soviel ſeh’ ich (ſo wenig ſeh’ ich in der ganzen
Sache hel und ich wil Ihr Auge als Lorgnette) daß wenn ich die
Wirkung einer ſchlimmen Erziehung glaube, [ich] auch die einer guten35
einräume, daß wenn ieder Menſch den Geruch des Jahrhunderts und
Volks annimt, in dem er lebt, auch der einzelne Erzieher an ihm müſſe

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[291/0317] nicht malen kan, ohne ſie zu haben... Sie ſehen Wieland durch ſeinen litterariſchen Dunſtkreis, der ſoviel Flecken, Höfe und blaſſe Neben- ſonnen um ihn bildet, hindurch in ſeiner nakten Sonnengröſſe. Ver- änderliche Menſchen werden am leichteſten verkant und am erſten für falſch verſchrieen; daher wurden ſeine Lobredner ſo oft an ihm irre 5 und es hättens doch blos ſeine Tadler werden ſollen... Bildung iſt wie das frühere Erziehen nicht Vergröſſern irgend einer Seelenkraft ſondern Lenken derſelben. Ich mag es nicht Entwiklung nennen. 100 mal thut man [ihr] die Ehre, ihr eine Entwiklung der Kräfte an- zurechnen, die blos das Werk des Wachſens an Leib und Seele iſt. Es 10 iſt geradeſo als [wenn] man der Kindermagd und ihrem Brei und ihrem Laufband das Wachſen und Gehen des Kindes beimäſſe: beides wäre ia doch ohne die Kindermagd, nur aber ſpäter gekommen (ich wikle mich aus einer Unterſuchung in die andre). An ganz dummen, böſen Kindern zerſchellet alle Erziehung und an ganz geniemäſſigen 15 auch (wiewol man ſie gerade als entgegengeſezte Beiſpiele vorführt, weil man das Werk ihres Genies zum Werk des Genies des Lehrers macht), am Mittelſchlag weniger. Das Meiſte und Beſte, was die gute Erziehung kan, iſt, die ſchlimme auszulöſchen und ſie ſchnellet nicht das Kind über den Weg ſeiner Entwiklung hin ſondern wirft nur die 20 aufhaltenden Steine aus dem Weg. Was thut am Ende die Erziehung? zum Scheine viel, weil der Eleve Sprachen ꝛc. kan, und der Bauer- junge nicht; aber dieſe Verſchiedenheit der Gegenſtände, woran beide ihre Kräfte ſchleifen, giebt nicht verhältnismäſſige Verſchiedenheit der Ausbildung. Der Bauer hat am Donnerſtag ſeine Rechenſtunde; 25 am Sontag Nachmittags ſeine Übungen in Wiz und Laune ꝛc. Wir glauben immer, nur Lehren bilde aus, ſtat Thun, da doch ein Kar- touche, der die feinſten diebiſchen Kriegsoperazionen entwirft, ein gröſſeres Feuer unter ſeiner Phantaſie anmacht als der Komödien- ſchreiber, der ſich zur Erfindung der nämlichen Entwürfe für ſeine 30 Rollen anſtrengt — Ich weis nicht mehr, unter welchem Grade von Breite oder gar Länge meiner Materie ich herumſchiffe, ſoweit ver- ſchlag’ ich mich — Soviel ſeh’ ich (ſo wenig ſeh’ ich in der ganzen Sache hel und ich wil Ihr Auge als Lorgnette) daß wenn ich die Wirkung einer ſchlimmen Erziehung glaube, [ich] auch die einer guten 35 einräume, daß wenn ieder Menſch den Geruch des Jahrhunderts und Volks annimt, in dem er lebt, auch der einzelne Erzieher an ihm müſſe [307] 19*

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/317>, abgerufen am 29.03.2024.