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Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849.

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Aufgaben aus dem Gebiete der alten Litteratur suchte er mit Vorliebe zu lösen, sondern ganz selbständig stellte er für sich mit Eifer und Geschick grosse Rechnungen an, offenbar angezogen durch die Strenge und Sicherheit der mathematischen Methode.

Die sprachlichen und metrischen Studien Hermanns hatten allerdings ihr Ziel und ihre Befriedigung in sich, allein ihre praktische Bewährung fanden sie in der Behandlung der allen Schriftsteller, zu deren vollem Verständniss sie den Weg bahnen sollten. Hermanns Behandlung der alten Schriftsteller war vorwiegend kritisch. Nicht als ob er darein das ganze Geschäft des Philologen gesetzt hätte; er erkannte und sprach es aus, dass Kritik und Erklärung einander nothwendig ergänzen, von einander getrennt nicht gedacht werden können, und nur in enger Verbindung und Wechselwirkung zum vollkommenen Verständniss führen. Aber da er, namentlich in seinen Schriften, hauptsächlich dahin sein Augenmerk richtete, wo Schwierigkeiten zu heben, Hülfe und Heilung zu bringen war, so trat hier allerdings praktisch die Kritik in den Vordergrund. Nie aber hat er die Kritik um ihrer selbst willen geübt, eine Conjectur vorgebracht, weil sie scharfsinnig und scheinbar war oder mit einem Aufwand von Gelehrsamkeit unterstützt werden konnte; das widerstand gleich sehr der Einfachheit und Wahrheit seines Charakters. Auch darin unterschied er sich von der früher geltenden Weise der Philologen, denen es meist als die Hauptsache erschien, ihre Geschicklichkeit in der Technik und ihre Herrschaft über den gelehrten Apparat glänzend zu bewähren; waren jene Virtuosen, so bewährte Hermann sich auch hier als Künstler. Auch war seine Kritik im Wesentlichen eine künstlerische. Jene diplomatische Kritik, wie sie von I. Bekker und Lachmann ausgebildet worden ist, welche durch sorgfältige Vergleichung und Abschätzung der Handschriften die Tradition des Textes ermittelt und im engen Anschluss an dieselbe Schritt für Schritt sich dem Ursprünglichen zu nähern sucht, hat er nicht geübt. Zum Theil lag das allerdings in der Ueberlieferung der Schriftsteller, mit welchen er sich vorzugsweise beschäftigt hat, aber es widerstrebte auch seiner Natur. Ihm schien dabei dem Materiellen und Technischen zu viel eingeräumt; den Handschriften schenkte auch er sorgfältige Beachtung und Prüfung, aber sie galten ihm meist nur für das Handwerkszeug, mit dem der Kritiker in freier Kunstübung schaltet. Seine Kritik war divinatorisch; nachdem er durch scharfe, nüchterne Prüfung sich von der Verderbniss und ihrer

Aufgaben aus dem Gebiete der alten Litteratur suchte er mit Vorliebe zu lösen, sondern ganz selbständig stellte er für sich mit Eifer und Geschick grosse Rechnungen an, offenbar angezogen durch die Strenge und Sicherheit der mathematischen Methode.

Die sprachlichen und metrischen Studien Hermanns hatten allerdings ihr Ziel und ihre Befriedigung in sich, allein ihre praktische Bewährung fanden sie in der Behandlung der allen Schriftsteller, zu deren vollem Verständniss sie den Weg bahnen sollten. Hermanns Behandlung der alten Schriftsteller war vorwiegend kritisch. Nicht als ob er darein das ganze Geschäft des Philologen gesetzt hätte; er erkannte und sprach es aus, dass Kritik und Erklärung einander nothwendig ergänzen, von einander getrennt nicht gedacht werden können, und nur in enger Verbindung und Wechselwirkung zum vollkommenen Verständniss führen. Aber da er, namentlich in seinen Schriften, hauptsächlich dahin sein Augenmerk richtete, wo Schwierigkeiten zu heben, Hülfe und Heilung zu bringen war, so trat hier allerdings praktisch die Kritik in den Vordergrund. Nie aber hat er die Kritik um ihrer selbst willen geübt, eine Conjectur vorgebracht, weil sie scharfsinnig und scheinbar war oder mit einem Aufwand von Gelehrsamkeit unterstützt werden konnte; das widerstand gleich sehr der Einfachheit und Wahrheit seines Charakters. Auch darin unterschied er sich von der früher geltenden Weise der Philologen, denen es meist als die Hauptsache erschien, ihre Geschicklichkeit in der Technik und ihre Herrschaft über den gelehrten Apparat glänzend zu bewähren; waren jene Virtuosen, so bewährte Hermann sich auch hier als Künstler. Auch war seine Kritik im Wesentlichen eine künstlerische. Jene diplomatische Kritik, wie sie von I. Bekker und Lachmann ausgebildet worden ist, welche durch sorgfältige Vergleichung und Abschätzung der Handschriften die Tradition des Textes ermittelt und im engen Anschluss an dieselbe Schritt für Schritt sich dem Ursprünglichen zu nähern sucht, hat er nicht geübt. Zum Theil lag das allerdings in der Ueberlieferung der Schriftsteller, mit welchen er sich vorzugsweise beschäftigt hat, aber es widerstrebte auch seiner Natur. Ihm schien dabei dem Materiellen und Technischen zu viel eingeräumt; den Handschriften schenkte auch er sorgfältige Beachtung und Prüfung, aber sie galten ihm meist nur für das Handwerkszeug, mit dem der Kritiker in freier Kunstübung schaltet. Seine Kritik war divinatorisch; nachdem er durch scharfe, nüchterne Prüfung sich von der Verderbniss und ihrer

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Aufgaben aus dem Gebiete der alten Litteratur suchte er mit Vorliebe zu lösen, sondern ganz selbständig stellte er für sich mit Eifer und Geschick grosse Rechnungen an, offenbar angezogen durch die Strenge und Sicherheit der mathematischen Methode.</p>
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[20/0020] Aufgaben aus dem Gebiete der alten Litteratur suchte er mit Vorliebe zu lösen, sondern ganz selbständig stellte er für sich mit Eifer und Geschick grosse Rechnungen an, offenbar angezogen durch die Strenge und Sicherheit der mathematischen Methode. Die sprachlichen und metrischen Studien Hermanns hatten allerdings ihr Ziel und ihre Befriedigung in sich, allein ihre praktische Bewährung fanden sie in der Behandlung der allen Schriftsteller, zu deren vollem Verständniss sie den Weg bahnen sollten. Hermanns Behandlung der alten Schriftsteller war vorwiegend kritisch. Nicht als ob er darein das ganze Geschäft des Philologen gesetzt hätte; er erkannte und sprach es aus, dass Kritik und Erklärung einander nothwendig ergänzen, von einander getrennt nicht gedacht werden können, und nur in enger Verbindung und Wechselwirkung zum vollkommenen Verständniss führen. Aber da er, namentlich in seinen Schriften, hauptsächlich dahin sein Augenmerk richtete, wo Schwierigkeiten zu heben, Hülfe und Heilung zu bringen war, so trat hier allerdings praktisch die Kritik in den Vordergrund. Nie aber hat er die Kritik um ihrer selbst willen geübt, eine Conjectur vorgebracht, weil sie scharfsinnig und scheinbar war oder mit einem Aufwand von Gelehrsamkeit unterstützt werden konnte; das widerstand gleich sehr der Einfachheit und Wahrheit seines Charakters. Auch darin unterschied er sich von der früher geltenden Weise der Philologen, denen es meist als die Hauptsache erschien, ihre Geschicklichkeit in der Technik und ihre Herrschaft über den gelehrten Apparat glänzend zu bewähren; waren jene Virtuosen, so bewährte Hermann sich auch hier als Künstler. Auch war seine Kritik im Wesentlichen eine künstlerische. Jene diplomatische Kritik, wie sie von I. Bekker und Lachmann ausgebildet worden ist, welche durch sorgfältige Vergleichung und Abschätzung der Handschriften die Tradition des Textes ermittelt und im engen Anschluss an dieselbe Schritt für Schritt sich dem Ursprünglichen zu nähern sucht, hat er nicht geübt. Zum Theil lag das allerdings in der Ueberlieferung der Schriftsteller, mit welchen er sich vorzugsweise beschäftigt hat, aber es widerstrebte auch seiner Natur. Ihm schien dabei dem Materiellen und Technischen zu viel eingeräumt; den Handschriften schenkte auch er sorgfältige Beachtung und Prüfung, aber sie galten ihm meist nur für das Handwerkszeug, mit dem der Kritiker in freier Kunstübung schaltet. Seine Kritik war divinatorisch; nachdem er durch scharfe, nüchterne Prüfung sich von der Verderbniss und ihrer

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Zitationshilfe: Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_rede_1849/20>, abgerufen am 28.03.2024.