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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speisen den hart¬
näckigsten Widerstand entgegenstellte. Die Nächte brachte er meist
schlaflos zu, und die früher schon bemerkten Visionen gestalteten
sich ihm nun zu völligen Teufelsfratzen, so daß er aus seiner
Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam.

Vorzüglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit.
Er pflegte in diesen Tagen zu seiner Erbauung Verse aus der
Bibel abzuschreiben, wobei er gewissenhaft die Stunde von
12 -- 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieser Zeit sein Schwa¬
ger zum Essen nach Hause kam, dabei mit seiner Frau häufig in
Streit gerieth, und besonders ihn, den R., zum Genuß von
Speisen nöthigen wollte. In seiner damaligen Stimmung
konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans sehen, indem
er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht sei. Ohne Kennt¬
niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene böse Stunde schon
verstrichen sei, weshalb er wieder Verse abzuschreiben anfing.
Als aber in der Nebenstube die Uhr Eins schlug, überfiel ihn eine
große Angst, daß der Teufel ihn zur bösen Zeit zum Abschreiben
aus der Bibel verführt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe,
daher er voll Entsetzen das Papier in Stücke zerriß, während es
ihm vorkam, daß die Fensterscheiben von einem lauten Knall er¬
dröhnten. Als er voll Abscheu jene Papierstücke auf das Dach
vor seinem Fenster geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den
Namen Gottes auf dieselben geschrieben, und durch das Zerrei¬
ßen gleichsam mit Füßen getreten habe. Deshalb bediente er sich
einiger zangenartig zusammengefaßten Holzstäbe, um die beschrie¬
benen Papierstücke zurückzuholen, und sie als geheiligte Zeichen
in die Bibel zu legen. Die unbeschriebenen Papierstücke hielt er
dagegen für ein Eigenthum des Teufels, welcher sich nicht nur
darauf vor seinem Fenster lagerte, sondern auch fast ununterbro¬
chen als ein gestaltloser Schein ihn umschwebte. Da die Holz¬
stäbe, mit denen er das beschriebene Papier heraufgeholt hatte,
durch die Berührung desselben geheiligt waren, so glaubte er sie
nicht zur Entfernung des teuflischen Papiers gebrauchen zu dür¬
fen, weshalb er drei Spazierstöcke hervorsuchte, um damit jenen
bösen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebst den Stöcken,
einem Rasiermesser und einer Wasserflasche, welche seiner Mei¬
nung nach durch teuflische Berührung unheilstiftend geworden wa¬

indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speiſen den hart¬
naͤckigſten Widerſtand entgegenſtellte. Die Naͤchte brachte er meiſt
ſchlaflos zu, und die fruͤher ſchon bemerkten Viſionen geſtalteten
ſich ihm nun zu voͤlligen Teufelsfratzen, ſo daß er aus ſeiner
Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam.

Vorzuͤglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit.
Er pflegte in dieſen Tagen zu ſeiner Erbauung Verſe aus der
Bibel abzuſchreiben, wobei er gewiſſenhaft die Stunde von
12 — 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieſer Zeit ſein Schwa¬
ger zum Eſſen nach Hauſe kam, dabei mit ſeiner Frau haͤufig in
Streit gerieth, und beſonders ihn, den R., zum Genuß von
Speiſen noͤthigen wollte. In ſeiner damaligen Stimmung
konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans ſehen, indem
er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht ſei. Ohne Kennt¬
niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene boͤſe Stunde ſchon
verſtrichen ſei, weshalb er wieder Verſe abzuſchreiben anfing.
Als aber in der Nebenſtube die Uhr Eins ſchlug, uͤberfiel ihn eine
große Angſt, daß der Teufel ihn zur boͤſen Zeit zum Abſchreiben
aus der Bibel verfuͤhrt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe,
daher er voll Entſetzen das Papier in Stuͤcke zerriß, waͤhrend es
ihm vorkam, daß die Fenſterſcheiben von einem lauten Knall er¬
droͤhnten. Als er voll Abſcheu jene Papierſtuͤcke auf das Dach
vor ſeinem Fenſter geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den
Namen Gottes auf dieſelben geſchrieben, und durch das Zerrei¬
ßen gleichſam mit Fuͤßen getreten habe. Deshalb bediente er ſich
einiger zangenartig zuſammengefaßten Holzſtaͤbe, um die beſchrie¬
benen Papierſtuͤcke zuruͤckzuholen, und ſie als geheiligte Zeichen
in die Bibel zu legen. Die unbeſchriebenen Papierſtuͤcke hielt er
dagegen fuͤr ein Eigenthum des Teufels, welcher ſich nicht nur
darauf vor ſeinem Fenſter lagerte, ſondern auch faſt ununterbro¬
chen als ein geſtaltloſer Schein ihn umſchwebte. Da die Holz¬
ſtaͤbe, mit denen er das beſchriebene Papier heraufgeholt hatte,
durch die Beruͤhrung deſſelben geheiligt waren, ſo glaubte er ſie
nicht zur Entfernung des teufliſchen Papiers gebrauchen zu duͤr¬
fen, weshalb er drei Spazierſtoͤcke hervorſuchte, um damit jenen
boͤſen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebſt den Stoͤcken,
einem Raſiermeſſer und einer Waſſerflaſche, welche ſeiner Mei¬
nung nach durch teufliſche Beruͤhrung unheilſtiftend geworden wa¬

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[34/0042] indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speiſen den hart¬ naͤckigſten Widerſtand entgegenſtellte. Die Naͤchte brachte er meiſt ſchlaflos zu, und die fruͤher ſchon bemerkten Viſionen geſtalteten ſich ihm nun zu voͤlligen Teufelsfratzen, ſo daß er aus ſeiner Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam. Vorzuͤglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit. Er pflegte in dieſen Tagen zu ſeiner Erbauung Verſe aus der Bibel abzuſchreiben, wobei er gewiſſenhaft die Stunde von 12 — 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieſer Zeit ſein Schwa¬ ger zum Eſſen nach Hauſe kam, dabei mit ſeiner Frau haͤufig in Streit gerieth, und beſonders ihn, den R., zum Genuß von Speiſen noͤthigen wollte. In ſeiner damaligen Stimmung konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans ſehen, indem er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht ſei. Ohne Kennt¬ niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene boͤſe Stunde ſchon verſtrichen ſei, weshalb er wieder Verſe abzuſchreiben anfing. Als aber in der Nebenſtube die Uhr Eins ſchlug, uͤberfiel ihn eine große Angſt, daß der Teufel ihn zur boͤſen Zeit zum Abſchreiben aus der Bibel verfuͤhrt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe, daher er voll Entſetzen das Papier in Stuͤcke zerriß, waͤhrend es ihm vorkam, daß die Fenſterſcheiben von einem lauten Knall er¬ droͤhnten. Als er voll Abſcheu jene Papierſtuͤcke auf das Dach vor ſeinem Fenſter geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den Namen Gottes auf dieſelben geſchrieben, und durch das Zerrei¬ ßen gleichſam mit Fuͤßen getreten habe. Deshalb bediente er ſich einiger zangenartig zuſammengefaßten Holzſtaͤbe, um die beſchrie¬ benen Papierſtuͤcke zuruͤckzuholen, und ſie als geheiligte Zeichen in die Bibel zu legen. Die unbeſchriebenen Papierſtuͤcke hielt er dagegen fuͤr ein Eigenthum des Teufels, welcher ſich nicht nur darauf vor ſeinem Fenſter lagerte, ſondern auch faſt ununterbro¬ chen als ein geſtaltloſer Schein ihn umſchwebte. Da die Holz¬ ſtaͤbe, mit denen er das beſchriebene Papier heraufgeholt hatte, durch die Beruͤhrung deſſelben geheiligt waren, ſo glaubte er ſie nicht zur Entfernung des teufliſchen Papiers gebrauchen zu duͤr¬ fen, weshalb er drei Spazierſtoͤcke hervorſuchte, um damit jenen boͤſen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebſt den Stoͤcken, einem Raſiermeſſer und einer Waſſerflaſche, welche ſeiner Mei¬ nung nach durch teufliſche Beruͤhrung unheilſtiftend geworden wa¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/42>, abgerufen am 29.03.2024.