Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

weil diese nur aus der gemeinsamen Pflege aller natürlichen
Neigungen oder Triebe entstehen kann. Man braucht sich nur
die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenschaften,
z. B. des Ehrgeizes, der Herrsch- und Habsucht, der übermä¬
ßigen Geschlechtsliebe u. s. w. lebhaft zu vergegenwärtigen,
um sich davon zu überzeugen, daß sie Geist und Gemüth
despotisch beherrschend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬
drückung der ihnen widerstrebenden Neigungen hervorbringen.

In den Leidenschaften hat sich daher das Gesammtstre¬
ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche
nun den überschwenglichen Charakter derselben am deutlichsten
zur Schau trägt, während bei der ganz naturgemäßen Ge¬
müthsverfassung die im Gleichgewichte stehenden Neigungen sich
gegenseitig beschränken, mäßigen, und dadurch ihrem übereil¬
ten Wirken vorbeugen. Also indem die Leidenschaft alle Zügel
von sich wirft, welche die übrigen Gemüthsinteressen ihr an¬
legen sollten, artet ihr Drang sogleich ins Maaßlose aus, so
daß derselbe in jeder theilweisen Befriedigung nur den Zun¬
der zu einer noch größeren Flamme der Begierden findet,
etwa wie der Weinerregte immer durstiger wird, je mehr Wein
er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenschaft sich noch mit
einem hinreichenden Grade von Besonnenheit oder objectivem
Verstandesgebrauch paart, weil sie der Nothwendigkeit einer
richtigen Berechnung ihres Verhältnisses zur Außenwelt behufs
der Erfüllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhält sie sich auch
im fortwährenden Zusammenhange mit derselben; der von ihr
Beherrschte ist noch ein Bürger der wirklichen Welt, ihren
Gesetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬
tretung ihn ins Verderben stürzen muß. Ja er erkennt es,
daß der praktische Verstandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬
tel ist, seine Zwecke in weitester Ausdehnung zu erfüllen, da¬
her denn die ächte Leidenschaft sich mit einem hohen Grade von
Weltklugheit paart, und in der Geistesbildung eine große Mei¬
sterschaft erreichen würde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke
im absoluten Gegensatze mit den Vernunftbegriffen ständen,
dadurch dem gesammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬
spruch einimpften, welcher selbst von der dialektischen Virtuosität
der leidenschaftlichen Sophistik nicht ganz verdeckt werden kann.

weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen
Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur
die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften,
z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch- und Habſucht, der uͤbermaͤ¬
ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen,
um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth
despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬
druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen.

In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬
ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche
nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten
zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬
muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich
gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬
ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel
von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬
legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo
daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬
der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet,
etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein
er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit
einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem
Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer
richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs
der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch
im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr
Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren
Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬
tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es,
daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬
tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬
her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von
Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬
ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke
im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden,
dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬
ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt
der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0015" n="7"/>
weil die&#x017F;e nur aus der gemein&#x017F;amen Pflege aller natu&#x0364;rlichen<lb/>
Neigungen oder Triebe ent&#x017F;tehen kann. Man braucht &#x017F;ich nur<lb/>
die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leiden&#x017F;chaften,<lb/>
z. B. des Ehrgeizes, der Herr&#x017F;ch- und Hab&#x017F;ucht, der u&#x0364;berma&#x0364;¬<lb/>
ßigen Ge&#x017F;chlechtsliebe u. &#x017F;. w. lebhaft zu vergegenwa&#x0364;rtigen,<lb/>
um &#x017F;ich davon zu u&#x0364;berzeugen, daß &#x017F;ie Gei&#x017F;t und Gemu&#x0364;th<lb/>
despoti&#x017F;ch beherr&#x017F;chend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬<lb/>
dru&#x0364;ckung der ihnen wider&#x017F;trebenden Neigungen hervorbringen.</p><lb/>
        <p>In den Leiden&#x017F;chaften hat &#x017F;ich daher das Ge&#x017F;ammt&#x017F;tre¬<lb/>
ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche<lb/>
nun den u&#x0364;ber&#x017F;chwenglichen Charakter der&#x017F;elben am deutlich&#x017F;ten<lb/>
zur Schau tra&#x0364;gt, wa&#x0364;hrend bei der ganz naturgema&#x0364;ßen Ge¬<lb/>
mu&#x0364;thsverfa&#x017F;&#x017F;ung die im Gleichgewichte &#x017F;tehenden Neigungen &#x017F;ich<lb/>
gegen&#x017F;eitig be&#x017F;chra&#x0364;nken, ma&#x0364;ßigen, und dadurch ihrem u&#x0364;bereil¬<lb/>
ten Wirken vorbeugen. Al&#x017F;o indem die Leiden&#x017F;chaft alle Zu&#x0364;gel<lb/>
von &#x017F;ich wirft, welche die u&#x0364;brigen Gemu&#x0364;thsintere&#x017F;&#x017F;en ihr an¬<lb/>
legen &#x017F;ollten, artet ihr Drang &#x017F;ogleich ins Maaßlo&#x017F;e aus, &#x017F;o<lb/>
daß der&#x017F;elbe in jeder theilwei&#x017F;en Befriedigung nur den Zun¬<lb/>
der zu einer noch gro&#x0364;ßeren Flamme der Begierden findet,<lb/>
etwa wie der Weinerregte immer dur&#x017F;tiger wird, je mehr Wein<lb/>
er trinkt. Nur deshalb, weil die Leiden&#x017F;chaft &#x017F;ich noch mit<lb/>
einem hinreichenden Grade von Be&#x017F;onnenheit oder objectivem<lb/>
Ver&#x017F;tandesgebrauch paart, weil &#x017F;ie der Nothwendigkeit einer<lb/>
richtigen Berechnung ihres Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;es zur Außenwelt behufs<lb/>
der Erfu&#x0364;llung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erha&#x0364;lt &#x017F;ie &#x017F;ich auch<lb/>
im fortwa&#x0364;hrenden Zu&#x017F;ammenhange mit der&#x017F;elben; der von ihr<lb/>
Beherr&#x017F;chte i&#x017F;t noch ein Bu&#x0364;rger der wirklichen Welt, ihren<lb/>
Ge&#x017F;etzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬<lb/>
tretung ihn ins Verderben &#x017F;tu&#x0364;rzen muß. Ja er erkennt es,<lb/>
daß der prakti&#x017F;che Ver&#x017F;tandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬<lb/>
tel i&#x017F;t, &#x017F;eine Zwecke in weite&#x017F;ter Ausdehnung zu erfu&#x0364;llen, da¬<lb/>
her denn die a&#x0364;chte Leiden&#x017F;chaft &#x017F;ich mit einem hohen Grade von<lb/>
Weltklugheit paart, und in der Gei&#x017F;tesbildung eine große Mei¬<lb/>
&#x017F;ter&#x017F;chaft erreichen wu&#x0364;rde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke<lb/>
im ab&#x017F;oluten Gegen&#x017F;atze mit den Vernunftbegriffen &#x017F;ta&#x0364;nden,<lb/>
dadurch dem ge&#x017F;ammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬<lb/>
&#x017F;pruch einimpften, welcher &#x017F;elb&#x017F;t von der dialekti&#x017F;chen Virtuo&#x017F;ita&#x0364;t<lb/>
der leiden&#x017F;chaftlichen Sophi&#x017F;tik nicht ganz verdeckt werden kann.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0015] weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften, z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch- und Habſucht, der uͤbermaͤ¬ ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen, um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬ druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen. In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬ ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬ muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬ ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬ legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬ der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet, etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬ tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es, daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬ tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬ her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬ ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden, dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬ ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/15
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/15>, abgerufen am 29.03.2024.