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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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hierin für ihn zugleich die stärkste Aufforderung zu einer gründ¬
lichen Erforschung der Hindernisse, welche sich der Ausbildung
seines religiösen Bewußtseins entgegenstellen, und ihn durch
eine Verunstaltung desselben in das tiefste Elend stürzen. Die
Geschichte der christlichen Kirche als der großen und allgemei¬
nen Erziehungsanstalt, in welcher alle Völker für ihre wahre
Bestimmung ausgebildet werden sollen, enthüllt vor unserm
Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichsten Ver¬
irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Frömmig¬
keit, welche als unerschöpfliche Quelle der Schwärmerei und
des Fanatismus längst das Evangelium, die Urkunde des
göttlichen Gesetzes, auf der ganzen Erde vertilgt hätte, wenn
nicht seine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬
leren Gemüthern wieder auflebte, um durch sie ein Zeugniß
von sich zu geben. Große Geschichtsforscher, durchdrungen von
der Nothwendigkeit, die wesentlichen Ursachen aufzudecken, wel¬
che in Religionskriegen, Inquisitionen, Hexenprocessen und
zahllosen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches
Unheil über eine lange Reihe von Jahrhunderten ausschütte¬
ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens
mächtig entgegen arbeiten, haben den reichsten Schatz prag¬
matischer Erkenntniß zu Tage gefördert, durch welche das hell¬
ste Licht auf den Ursprung der Schwärmerei und des Fana¬
tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬
rungen, nämlich dem religiösen Wahnsinn, widmeten sie weni¬
ger ihre Aufmerksamkeit, weil derselbe allerdings ein ganz ei¬
genthümliches Studium erheischt, zu welchem allein das prak¬
tische Wirken der psychischen Aerzte in den Irrenheilanstalten
eine günstige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es
daher vorzugsweise ob, die Erscheinungen des religiösen Wahn¬
sinnes einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen, um Rechen¬
schaft von seinen Ursachen und Entwickelungsgesetzen zu ge¬
ben, und dadurch den Beweis zu führen, daß seine gründli¬
che Kenntniß tief in die heiligsten Angelegenheiten der Völ¬
ker eingreift.

Es dürfte mir sehr schwer, wenn nicht unmöglich wer¬
den, diesen Beweis in gedrängter Kürze einleuchtend zu ma¬
chen, da ihm die noch weit verbreiteten Vorurtheile über die

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hierin fuͤr ihn zugleich die ſtaͤrkſte Aufforderung zu einer gruͤnd¬
lichen Erforſchung der Hinderniſſe, welche ſich der Ausbildung
ſeines religioͤſen Bewußtſeins entgegenſtellen, und ihn durch
eine Verunſtaltung deſſelben in das tiefſte Elend ſtuͤrzen. Die
Geſchichte der chriſtlichen Kirche als der großen und allgemei¬
nen Erziehungsanſtalt, in welcher alle Voͤlker fuͤr ihre wahre
Beſtimmung ausgebildet werden ſollen, enthuͤllt vor unſerm
Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichſten Ver¬
irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Froͤmmig¬
keit, welche als unerſchoͤpfliche Quelle der Schwaͤrmerei und
des Fanatismus laͤngſt das Evangelium, die Urkunde des
goͤttlichen Geſetzes, auf der ganzen Erde vertilgt haͤtte, wenn
nicht ſeine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬
leren Gemuͤthern wieder auflebte, um durch ſie ein Zeugniß
von ſich zu geben. Große Geſchichtsforſcher, durchdrungen von
der Nothwendigkeit, die weſentlichen Urſachen aufzudecken, wel¬
che in Religionskriegen, Inquiſitionen, Hexenproceſſen und
zahlloſen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches
Unheil uͤber eine lange Reihe von Jahrhunderten ausſchuͤtte¬
ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens
maͤchtig entgegen arbeiten, haben den reichſten Schatz prag¬
matiſcher Erkenntniß zu Tage gefoͤrdert, durch welche das hell¬
ſte Licht auf den Urſprung der Schwaͤrmerei und des Fana¬
tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬
rungen, naͤmlich dem religioͤſen Wahnſinn, widmeten ſie weni¬
ger ihre Aufmerkſamkeit, weil derſelbe allerdings ein ganz ei¬
genthuͤmliches Studium erheiſcht, zu welchem allein das prak¬
tiſche Wirken der pſychiſchen Aerzte in den Irrenheilanſtalten
eine guͤnſtige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es
daher vorzugsweiſe ob, die Erſcheinungen des religioͤſen Wahn¬
ſinnes einer ſorgfaͤltigen Pruͤfung zu unterwerfen, um Rechen¬
ſchaft von ſeinen Urſachen und Entwickelungsgeſetzen zu ge¬
ben, und dadurch den Beweis zu fuͤhren, daß ſeine gruͤndli¬
che Kenntniß tief in die heiligſten Angelegenheiten der Voͤl¬
ker eingreift.

Es duͤrfte mir ſehr ſchwer, wenn nicht unmoͤglich wer¬
den, dieſen Beweis in gedraͤngter Kuͤrze einleuchtend zu ma¬
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[3/0011] hierin fuͤr ihn zugleich die ſtaͤrkſte Aufforderung zu einer gruͤnd¬ lichen Erforſchung der Hinderniſſe, welche ſich der Ausbildung ſeines religioͤſen Bewußtſeins entgegenſtellen, und ihn durch eine Verunſtaltung deſſelben in das tiefſte Elend ſtuͤrzen. Die Geſchichte der chriſtlichen Kirche als der großen und allgemei¬ nen Erziehungsanſtalt, in welcher alle Voͤlker fuͤr ihre wahre Beſtimmung ausgebildet werden ſollen, enthuͤllt vor unſerm Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichſten Ver¬ irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Froͤmmig¬ keit, welche als unerſchoͤpfliche Quelle der Schwaͤrmerei und des Fanatismus laͤngſt das Evangelium, die Urkunde des goͤttlichen Geſetzes, auf der ganzen Erde vertilgt haͤtte, wenn nicht ſeine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬ leren Gemuͤthern wieder auflebte, um durch ſie ein Zeugniß von ſich zu geben. Große Geſchichtsforſcher, durchdrungen von der Nothwendigkeit, die weſentlichen Urſachen aufzudecken, wel¬ che in Religionskriegen, Inquiſitionen, Hexenproceſſen und zahlloſen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches Unheil uͤber eine lange Reihe von Jahrhunderten ausſchuͤtte¬ ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens maͤchtig entgegen arbeiten, haben den reichſten Schatz prag¬ matiſcher Erkenntniß zu Tage gefoͤrdert, durch welche das hell¬ ſte Licht auf den Urſprung der Schwaͤrmerei und des Fana¬ tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬ rungen, naͤmlich dem religioͤſen Wahnſinn, widmeten ſie weni¬ ger ihre Aufmerkſamkeit, weil derſelbe allerdings ein ganz ei¬ genthuͤmliches Studium erheiſcht, zu welchem allein das prak¬ tiſche Wirken der pſychiſchen Aerzte in den Irrenheilanſtalten eine guͤnſtige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es daher vorzugsweiſe ob, die Erſcheinungen des religioͤſen Wahn¬ ſinnes einer ſorgfaͤltigen Pruͤfung zu unterwerfen, um Rechen¬ ſchaft von ſeinen Urſachen und Entwickelungsgeſetzen zu ge¬ ben, und dadurch den Beweis zu fuͤhren, daß ſeine gruͤndli¬ che Kenntniß tief in die heiligſten Angelegenheiten der Voͤl¬ ker eingreift. Es duͤrfte mir ſehr ſchwer, wenn nicht unmoͤglich wer¬ den, dieſen Beweis in gedraͤngter Kuͤrze einleuchtend zu ma¬ chen, da ihm die noch weit verbreiteten Vorurtheile uͤber die 1 *

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/11>, abgerufen am 28.03.2024.