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Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI.

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"Die Religion erhebt das Sittengesetz auf eine hö-
here Stufe, indem sie es als ein Gesetz Gottes zeigt;
sie erleichtert zugleich dem Menschen die Befolgung des-
selben, da sie an die Stelle trockner und nackter Pflicht-
mäßigkeit die, jedem gutgearteten Menschen natürlichen
Gefühle der kindlichen Ehrfurcht, Liebe, Dankbarkeit und
Folgsamkeit gegen Gott setzt; und auf eine Fortdauer
nach dem Tode hinweist, in welcher die Entsagungen,
welche die Pflicht auferlegt, eine fernere, von allen ir-
dischen Zufällen freie, und vollkommen gerechte Beloh-
nung finden. Sie erhebt aber auch den Menschen in
seinem ganzen Jnnern, da der religiös gestimmte Mensch
fühlt, daß er ein Gegenstand der Liebe und Sorgfalt
des Unendlichen ist; daß das irdische Leben, als der
kleinste und unvollkommenste Theil seines Daseyns, mit
allen seinen Gütern und Vorzügen nicht in Betrachtung
kommt gegen die Reinheit der über dasselbe hinausge-
henden Gesinnung; und daß ihm, soweit es die Schran-
ken der Endlichkeit verstatten, eine Gemeinschaft mit dem
Wesen eröffnet ist, welches Alles hervorgebracht hat und
Alles erhält.

"Es ist demnach durchaus falsch, daß die Religion
im Grunde nur Lehren aufstellt. Sie lebt und webt viel-
mehr in Gefühlen. Denn sie stellt Wahrheiten auf, die
ihrer Natur nach, in jedem Menschen, der sich ihren Ein-
drücken offen erhält, zu Gefühlen werden; Wahrheiten,
die nur aus dem natürlichen Gefühl entwickelt und ent-

„Die Religion erhebt das Sittengeſetz auf eine hö-
here Stufe, indem ſie es als ein Geſetz Gottes zeigt;
ſie erleichtert zugleich dem Menſchen die Befolgung deſ-
ſelben, da ſie an die Stelle trockner und nackter Pflicht-
mäßigkeit die, jedem gutgearteten Menſchen natürlichen
Gefühle der kindlichen Ehrfurcht, Liebe, Dankbarkeit und
Folgſamkeit gegen Gott ſetzt; und auf eine Fortdauer
nach dem Tode hinweiſt, in welcher die Entſagungen,
welche die Pflicht auferlegt, eine fernere, von allen ir-
diſchen Zufällen freie, und vollkommen gerechte Beloh-
nung finden. Sie erhebt aber auch den Menſchen in
ſeinem ganzen Jnnern, da der religiös geſtimmte Menſch
fühlt, daß er ein Gegenſtand der Liebe und Sorgfalt
des Unendlichen iſt; daß das irdiſche Leben, als der
kleinſte und unvollkommenſte Theil ſeines Daſeyns, mit
allen ſeinen Gütern und Vorzügen nicht in Betrachtung
kommt gegen die Reinheit der über daſſelbe hinausge-
henden Geſinnung; und daß ihm, ſoweit es die Schran-
ken der Endlichkeit verſtatten, eine Gemeinſchaft mit dem
Weſen eröffnet iſt, welches Alles hervorgebracht hat und
Alles erhält.

„Es iſt demnach durchaus falſch, daß die Religion
im Grunde nur Lehren aufſtellt. Sie lebt und webt viel-
mehr in Gefühlen. Denn ſie ſtellt Wahrheiten auf, die
ihrer Natur nach, in jedem Menſchen, der ſich ihren Ein-
drücken offen erhält, zu Gefühlen werden; Wahrheiten,
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[X/0011] „Die Religion erhebt das Sittengeſetz auf eine hö- here Stufe, indem ſie es als ein Geſetz Gottes zeigt; ſie erleichtert zugleich dem Menſchen die Befolgung deſ- ſelben, da ſie an die Stelle trockner und nackter Pflicht- mäßigkeit die, jedem gutgearteten Menſchen natürlichen Gefühle der kindlichen Ehrfurcht, Liebe, Dankbarkeit und Folgſamkeit gegen Gott ſetzt; und auf eine Fortdauer nach dem Tode hinweiſt, in welcher die Entſagungen, welche die Pflicht auferlegt, eine fernere, von allen ir- diſchen Zufällen freie, und vollkommen gerechte Beloh- nung finden. Sie erhebt aber auch den Menſchen in ſeinem ganzen Jnnern, da der religiös geſtimmte Menſch fühlt, daß er ein Gegenſtand der Liebe und Sorgfalt des Unendlichen iſt; daß das irdiſche Leben, als der kleinſte und unvollkommenſte Theil ſeines Daſeyns, mit allen ſeinen Gütern und Vorzügen nicht in Betrachtung kommt gegen die Reinheit der über daſſelbe hinausge- henden Geſinnung; und daß ihm, ſoweit es die Schran- ken der Endlichkeit verſtatten, eine Gemeinſchaft mit dem Weſen eröffnet iſt, welches Alles hervorgebracht hat und Alles erhält. „Es iſt demnach durchaus falſch, daß die Religion im Grunde nur Lehren aufſtellt. Sie lebt und webt viel- mehr in Gefühlen. Denn ſie ſtellt Wahrheiten auf, die ihrer Natur nach, in jedem Menſchen, der ſich ihren Ein- drücken offen erhält, zu Gefühlen werden; Wahrheiten, die nur aus dem natürlichen Gefühl entwickelt und ent-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1853/11>, abgerufen am 24.04.2024.