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Humboldt, Alexander von: Rede, gehalten bei der Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin, am 18ten September 1828. Berlin, 1828.

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Bei einem Stamme, der sich zur schönsten geistigen Individualität
erhoben hatte, und dessen spätesten Nachkommen, wie aus dem Schiff-
bruche der Völker gerettet, wir noch heute unsre bangen Wünsche weihen,
in der Blüthezeit des hellenischen Alterthums, offenbarte sich am kräftigsten
der Unterschied zwischen Wort und Schrift. Nicht die Schwierigkeit des
Ideenverkehrs allein, nicht die Entbehrung einer deutschen Kunst, die den
Gedanken, wie auf Flügeln durch den Raum verbreitet und ihm lange
Dauer verheisst, geboten damals den Freunden der Philosophie und Natur-
kunde, Hellas, oder die dorischen und ionischen Kolonien in Gross-Griechen-
land und Klein-Asien, auf langen Reisen zu durchwandern. Das alte Ge-
schlecht kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeisternden Ein-
fluss, welchen durch ihre Nähe hohe Meisterschaft ausübt, und die aufhel-
lende Macht des Gesprächs, wenn es unvorbereitet, frei und schonend zu-
gleich, das Gewebe wissenschaftlicher Meinungen und Zweifel durchläuft.
Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denk-
bar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfang, auf einmal, und von
allen zugleich, erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforscher sei-
nem Ziele zu nähern scheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe.
Die Masse der Zweifel wird nicht gemindert, sie verbreitet sich nur, wie
ein beweglicher Nebelduft, über andre und andre Gebiete. Wer golden
die Zeit nennt, wo Verschiedenheit der Ansichten, oder wie man sich wohl
auszudrücken pflegt, der Zwist der Gelehrten, geschlichtet sein wird, hat
von den Bedürfnissen der Wissenschaft, von ihrem rastlosen Fortschreiten,
eben so wenig einen klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger
Selbstzufriedenheit, sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physio-
logie, seit mehreren Jahrzehenden, dieselben Meinungen zu vertheidigen.

Die Gründer dieser Gesellschaft haben, in wahrem und tiefem Ge-
fühle der Einheit der Natur, alle Zweige des physikalischen Wissens (des

Bei einem Stamme, der sich zur schönsten geistigen Individualität
erhoben hatte, und dessen spätesten Nachkommen, wie aus dem Schiff-
bruche der Völker gerettet, wir noch heute unsre bangen Wünsche weihen,
in der Blüthezeit des hellenischen Alterthums, offenbarte sich am kräftigsten
der Unterschied zwischen Wort und Schrift. Nicht die Schwierigkeit des
Ideenverkehrs allein, nicht die Entbehrung einer deutschen Kunst, die den
Gedanken, wie auf Flügeln durch den Raum verbreitet und ihm lange
Dauer verheiſst, geboten damals den Freunden der Philosophie und Natur-
kunde, Hellas, oder die dorischen und ionischen Kolonien in Groſs-Griechen-
land und Klein-Asien, auf langen Reisen zu durchwandern. Das alte Ge-
schlecht kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeisternden Ein-
fluſs, welchen durch ihre Nähe hohe Meisterschaft ausübt, und die aufhel-
lende Macht des Gesprächs, wenn es unvorbereitet, frei und schonend zu-
gleich, das Gewebe wissenschaftlicher Meinungen und Zweifel durchläuft.
Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denk-
bar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfang, auf einmal, und von
allen zugleich, erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforscher sei-
nem Ziele zu nähern scheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe.
Die Masse der Zweifel wird nicht gemindert, sie verbreitet sich nur, wie
ein beweglicher Nebelduft, über andre und andre Gebiete. Wer golden
die Zeit nennt, wo Verschiedenheit der Ansichten, oder wie man sich wohl
auszudrücken pflegt, der Zwist der Gelehrten, geschlichtet sein wird, hat
von den Bedürfnissen der Wissenschaft, von ihrem rastlosen Fortschreiten,
eben so wenig einen klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger
Selbstzufriedenheit, sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physio-
logie, seit mehreren Jahrzehenden, dieselben Meinungen zu vertheidigen.

Die Gründer dieser Gesellschaft haben, in wahrem und tiefem Ge-
fühle der Einheit der Natur, alle Zweige des physikalischen Wissens (des

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[7/0006] Bei einem Stamme, der sich zur schönsten geistigen Individualität erhoben hatte, und dessen spätesten Nachkommen, wie aus dem Schiff- bruche der Völker gerettet, wir noch heute unsre bangen Wünsche weihen, in der Blüthezeit des hellenischen Alterthums, offenbarte sich am kräftigsten der Unterschied zwischen Wort und Schrift. Nicht die Schwierigkeit des Ideenverkehrs allein, nicht die Entbehrung einer deutschen Kunst, die den Gedanken, wie auf Flügeln durch den Raum verbreitet und ihm lange Dauer verheiſst, geboten damals den Freunden der Philosophie und Natur- kunde, Hellas, oder die dorischen und ionischen Kolonien in Groſs-Griechen- land und Klein-Asien, auf langen Reisen zu durchwandern. Das alte Ge- schlecht kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeisternden Ein- fluſs, welchen durch ihre Nähe hohe Meisterschaft ausübt, und die aufhel- lende Macht des Gesprächs, wenn es unvorbereitet, frei und schonend zu- gleich, das Gewebe wissenschaftlicher Meinungen und Zweifel durchläuft. Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denk- bar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfang, auf einmal, und von allen zugleich, erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforscher sei- nem Ziele zu nähern scheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe. Die Masse der Zweifel wird nicht gemindert, sie verbreitet sich nur, wie ein beweglicher Nebelduft, über andre und andre Gebiete. Wer golden die Zeit nennt, wo Verschiedenheit der Ansichten, oder wie man sich wohl auszudrücken pflegt, der Zwist der Gelehrten, geschlichtet sein wird, hat von den Bedürfnissen der Wissenschaft, von ihrem rastlosen Fortschreiten, eben so wenig einen klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger Selbstzufriedenheit, sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physio- logie, seit mehreren Jahrzehenden, dieselben Meinungen zu vertheidigen. Die Gründer dieser Gesellschaft haben, in wahrem und tiefem Ge- fühle der Einheit der Natur, alle Zweige des physikalischen Wissens (des

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Rede, gehalten bei der Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin, am 18ten September 1828. Berlin, 1828, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_versammlung_1828/6>, abgerufen am 18.04.2024.