Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806.

Bild:
<< vorherige Seite

seinen Blick auf die afrikanischen Küstenländer des
Mittelmeeres richtet: so wird man leicht zu dem
Fehlschlusse verleitet, als sei Baumlosigkeit der Charakter
heisser Klimate. Aber man vergisst, dass das
südliche Europa eine andere Gestalt hatte, als pelasgische
oder carthagische Pflanzvölker sich zuerst darinn
festsezten; man vergisst, dass frühere Bildung des
Menschengeschlechts die Waldungen verdrängt, und
dass der umschaffende Geist der Nazionen der Erde allmählig
den Schmuck raubt, der uns in dem Norden
erfreut, und der (mehr, als alle Geschichte) die Jugend
unserer sittlichen Kultur anzeigt. Die grosse Katastrophe,
durch welche das Mittelmeer sich gebildet,
indem es, ein anschwellendes Binnenwasser, die
Schleusen der Dardanellen und die Säulen des Herkules
durchbrochen, diese Katastrophe scheint die angränzenden
Länder eines grossen Theils ihrer Dammerde
beraubt zu haben. Was bei den griechischen
Schriftstellern von den Samothracischen Sagen erwähnt
wird, deutet die Neuheit dieser zerstörenden Naturveränderung
an. Auch ist in allen Ländern, welche
das Mittelmeer begränzt, und welche die Kalkformation
des Jura charakterisirt, ein grosser Theil der Erdoberfläche
nackter Fels. Das Mahlerische italienischer
Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen
Kontraste zwischen dem unbelebten öden Gestein
und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darinn
aufsprosst. Wo dieses Gestein, minder zerklüftet,
die Wasser auf der Oberfläche zusammen hält,
wo diese mit Erde bedeckt ist, (wie an den reizenden

seinen Blick auf die afrikanischen Küstenländer des
Mittelmeeres richtet: so wird man leicht zu dem
Fehlschlusse verleitet, als sei Baumlosigkeit der Charakter
heiſser Klimate. Aber man vergiſst, daſs das
südliche Europa eine andere Gestalt hatte, als pelasgische
oder carthagische Pflanzvölker sich zuerst darinn
festsezten; man vergiſst, daſs frühere Bildung des
Menschengeschlechts die Waldungen verdrängt, und
daſs der umschaffende Geist der Nazionen der Erde allmählig
den Schmuck raubt, der uns in dem Norden
erfreut, und der (mehr, als alle Geschichte) die Jugend
unserer sittlichen Kultur anzeigt. Die groſse Katastrophe,
durch welche das Mittelmeer sich gebildet,
indem es, ein anschwellendes Binnenwasser, die
Schleusen der Dardanellen und die Säulen des Herkules
durchbrochen, diese Katastrophe scheint die angränzenden
Länder eines groſsen Theils ihrer Dammerde
beraubt zu haben. Was bei den griechischen
Schriftstellern von den Samothracischen Sagen erwähnt
wird, deutet die Neuheit dieser zerstörenden Naturveränderung
an. Auch ist in allen Ländern, welche
das Mittelmeer begränzt, und welche die Kalkformation
des Jura charakterisirt, ein groſser Theil der Erdoberfläche
nackter Fels. Das Mahlerische italienischer
Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen
Kontraste zwischen dem unbelebten öden Gestein
und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darinn
aufsproſst. Wo dieses Gestein, minder zerklüftet,
die Wasser auf der Oberfläche zusammen hält,
wo diese mit Erde bedeckt ist, (wie an den reizenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0009" n="9"/>
seinen Blick auf die <placeName>afrikanischen Küstenländer</placeName> des<lb/><placeName>Mittelmeeres</placeName> richtet: so wird man leicht zu dem<lb/>
Fehlschlusse verleitet, als sei Baumlosigkeit der Charakter<lb/>
hei&#x017F;ser Klimate. Aber man vergi&#x017F;st, da&#x017F;s das<lb/>
südliche <placeName>Europa</placeName> eine andere Gestalt hatte, als pelasgische<lb/>
oder carthagische Pflanzvölker sich zuerst darinn<lb/>
festsezten; man vergi&#x017F;st, da&#x017F;s frühere Bildung des<lb/>
Menschengeschlechts die Waldungen verdrängt, und<lb/>
da&#x017F;s der umschaffende Geist der Nazionen der Erde allmählig<lb/>
den Schmuck raubt, der uns in dem Norden<lb/>
erfreut, und der (mehr, als alle Geschichte) die Jugend<lb/>
unserer sittlichen Kultur anzeigt. Die gro&#x017F;se Katastrophe,<lb/>
durch welche das <placeName>Mittelmeer</placeName> sich gebildet,<lb/>
indem es, ein anschwellendes Binnenwasser, die<lb/>
Schleusen der <placeName>Dardanellen</placeName> und die <placeName>Säulen des Herkules</placeName><lb/>
durchbrochen, diese Katastrophe scheint die angränzenden<lb/>
Länder eines gro&#x017F;sen Theils ihrer Dammerde<lb/>
beraubt zu haben. Was bei den griechischen<lb/>
Schriftstellern von den Samothracischen Sagen erwähnt<lb/>
wird, deutet die Neuheit dieser zerstörenden Naturveränderung<lb/>
an. Auch ist in allen Ländern, welche<lb/>
das <placeName>Mittelmeer</placeName> begränzt, und welche die Kalkformation<lb/>
des Jura charakterisirt, ein gro&#x017F;ser Theil der Erdoberfläche<lb/>
nackter Fels. Das Mahlerische italienischer<lb/>
Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen<lb/>
Kontraste zwischen dem unbelebten öden Gestein<lb/>
und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darinn<lb/>
aufspro&#x017F;st. Wo dieses Gestein, minder zerklüftet,<lb/>
die Wasser auf der Oberfläche zusammen hält,<lb/>
wo diese mit Erde bedeckt ist, (wie an den reizenden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0009] seinen Blick auf die afrikanischen Küstenländer des Mittelmeeres richtet: so wird man leicht zu dem Fehlschlusse verleitet, als sei Baumlosigkeit der Charakter heiſser Klimate. Aber man vergiſst, daſs das südliche Europa eine andere Gestalt hatte, als pelasgische oder carthagische Pflanzvölker sich zuerst darinn festsezten; man vergiſst, daſs frühere Bildung des Menschengeschlechts die Waldungen verdrängt, und daſs der umschaffende Geist der Nazionen der Erde allmählig den Schmuck raubt, der uns in dem Norden erfreut, und der (mehr, als alle Geschichte) die Jugend unserer sittlichen Kultur anzeigt. Die groſse Katastrophe, durch welche das Mittelmeer sich gebildet, indem es, ein anschwellendes Binnenwasser, die Schleusen der Dardanellen und die Säulen des Herkules durchbrochen, diese Katastrophe scheint die angränzenden Länder eines groſsen Theils ihrer Dammerde beraubt zu haben. Was bei den griechischen Schriftstellern von den Samothracischen Sagen erwähnt wird, deutet die Neuheit dieser zerstörenden Naturveränderung an. Auch ist in allen Ländern, welche das Mittelmeer begränzt, und welche die Kalkformation des Jura charakterisirt, ein groſser Theil der Erdoberfläche nackter Fels. Das Mahlerische italienischer Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen Kontraste zwischen dem unbelebten öden Gestein und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darinn aufsproſst. Wo dieses Gestein, minder zerklüftet, die Wasser auf der Oberfläche zusammen hält, wo diese mit Erde bedeckt ist, (wie an den reizenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
SUB Göttingen: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
  • Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806/9
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806/9>, abgerufen am 20.04.2024.