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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Zwischengebiet sieht man Krokodile, oft acht und zehn, auf
dem Sande liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem
Winkel aufgesperrt, ruhen sie nebeneinander, ohne irgend ein
Zeichen von Zuneigung, wie man sie sonst bei gesellig leben-
den Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, sobald er
vom Ufer aufbricht, und doch besteht er wahrscheinlich nur
aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn,
wie schon Descourtils, der die Krokodile auf San Domingo
so fleißig beobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen sind
ziemlich selten, weil sie in der Brunst miteinander kämpfen
und sich ums Leben bringen. Diese gewaltigen Reptilien sind
so zahlreich, daß auf dem ganzen Stromlauf fast jeden Augen-
blick ihrer fünf oder sechs zu sehen waren, und doch fing der
Apure erst kaum merklich an zu steigen und Hunderte von
Krokodilen lagen also noch im Schlamme der Savannen be-
graben. Gegen 4 Uhr abends hielten wir an, um ein totes
Krokodil zu messen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es
war nur 5,38 m lang; einige Tage später fand Bonpland
ein anderes (männliches), das 7,22 m maß. Unter allen
Zonen, in Amerika wie in Aegypten, erreicht das Tier die-
selbe Größe; auch ist die Art, die im Apure, im Orinoko und
im Magdalenenstrom so häufig vorkommt, 1 kein Kaiman oder
Alligator, sondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren
Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil sehr ähnlich. Be-
denkt man, daß das männliche Tier erst mit zehn Jahren
mannbar wird und daß es dann 2,6 m lang ist, so läßt sich
annehmen, daß das von Bonpland gemessene Tier wenigstens
28 Jahre alt war. Die Indianer sagten uns, in San Fer-
nando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei er-
wachsene Menschen, namentlich Weiber beim Wasserschöpfen
am Fluß von diesen fleischfressenden Eidechsen zerrissen würden.
Man erzählte uns die Geschichte eines jungen Mädchens aus
Uritucu, das sich durch seltene Unerschrockenheit und Geistes-
gegenwart aus dem Rachen eines Krokodils gerettet. Sobald
sie sich gepackt fühlte, griff sie nach den Augen des Tieres
und stieß ihre Finger mit solcher Gewalt hinein, daß das
Krokodil vor Schmerz sie fahren ließ, nachdem es ihr den
linken Vorderarm abgerissen. Trotz des ungeheuren Blut-
verlustes gelangte die Indianerin, mit der übrig gebliebenen

1 Es ist dies der Arue der Tamanaken, der Amana der May-
puren, Cuviers Crocodilus acutus.

Zwiſchengebiet ſieht man Krokodile, oft acht und zehn, auf
dem Sande liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem
Winkel aufgeſperrt, ruhen ſie nebeneinander, ohne irgend ein
Zeichen von Zuneigung, wie man ſie ſonſt bei geſellig leben-
den Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, ſobald er
vom Ufer aufbricht, und doch beſteht er wahrſcheinlich nur
aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn,
wie ſchon Descourtils, der die Krokodile auf San Domingo
ſo fleißig beobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen ſind
ziemlich ſelten, weil ſie in der Brunſt miteinander kämpfen
und ſich ums Leben bringen. Dieſe gewaltigen Reptilien ſind
ſo zahlreich, daß auf dem ganzen Stromlauf faſt jeden Augen-
blick ihrer fünf oder ſechs zu ſehen waren, und doch fing der
Apure erſt kaum merklich an zu ſteigen und Hunderte von
Krokodilen lagen alſo noch im Schlamme der Savannen be-
graben. Gegen 4 Uhr abends hielten wir an, um ein totes
Krokodil zu meſſen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es
war nur 5,38 m lang; einige Tage ſpäter fand Bonpland
ein anderes (männliches), das 7,22 m maß. Unter allen
Zonen, in Amerika wie in Aegypten, erreicht das Tier die-
ſelbe Größe; auch iſt die Art, die im Apure, im Orinoko und
im Magdalenenſtrom ſo häufig vorkommt, 1 kein Kaiman oder
Alligator, ſondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren
Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil ſehr ähnlich. Be-
denkt man, daß das männliche Tier erſt mit zehn Jahren
mannbar wird und daß es dann 2,6 m lang iſt, ſo läßt ſich
annehmen, daß das von Bonpland gemeſſene Tier wenigſtens
28 Jahre alt war. Die Indianer ſagten uns, in San Fer-
nando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei er-
wachſene Menſchen, namentlich Weiber beim Waſſerſchöpfen
am Fluß von dieſen fleiſchfreſſenden Eidechſen zerriſſen würden.
Man erzählte uns die Geſchichte eines jungen Mädchens aus
Uritucu, das ſich durch ſeltene Unerſchrockenheit und Geiſtes-
gegenwart aus dem Rachen eines Krokodils gerettet. Sobald
ſie ſich gepackt fühlte, griff ſie nach den Augen des Tieres
und ſtieß ihre Finger mit ſolcher Gewalt hinein, daß das
Krokodil vor Schmerz ſie fahren ließ, nachdem es ihr den
linken Vorderarm abgeriſſen. Trotz des ungeheuren Blut-
verluſtes gelangte die Indianerin, mit der übrig gebliebenen

1 Es iſt dies der Arue der Tamanaken, der Amana der May-
puren, Cuviers Crocodilus acutus.
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[20/0028] Zwiſchengebiet ſieht man Krokodile, oft acht und zehn, auf dem Sande liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem Winkel aufgeſperrt, ruhen ſie nebeneinander, ohne irgend ein Zeichen von Zuneigung, wie man ſie ſonſt bei geſellig leben- den Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, ſobald er vom Ufer aufbricht, und doch beſteht er wahrſcheinlich nur aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn, wie ſchon Descourtils, der die Krokodile auf San Domingo ſo fleißig beobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen ſind ziemlich ſelten, weil ſie in der Brunſt miteinander kämpfen und ſich ums Leben bringen. Dieſe gewaltigen Reptilien ſind ſo zahlreich, daß auf dem ganzen Stromlauf faſt jeden Augen- blick ihrer fünf oder ſechs zu ſehen waren, und doch fing der Apure erſt kaum merklich an zu ſteigen und Hunderte von Krokodilen lagen alſo noch im Schlamme der Savannen be- graben. Gegen 4 Uhr abends hielten wir an, um ein totes Krokodil zu meſſen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es war nur 5,38 m lang; einige Tage ſpäter fand Bonpland ein anderes (männliches), das 7,22 m maß. Unter allen Zonen, in Amerika wie in Aegypten, erreicht das Tier die- ſelbe Größe; auch iſt die Art, die im Apure, im Orinoko und im Magdalenenſtrom ſo häufig vorkommt, 1 kein Kaiman oder Alligator, ſondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil ſehr ähnlich. Be- denkt man, daß das männliche Tier erſt mit zehn Jahren mannbar wird und daß es dann 2,6 m lang iſt, ſo läßt ſich annehmen, daß das von Bonpland gemeſſene Tier wenigſtens 28 Jahre alt war. Die Indianer ſagten uns, in San Fer- nando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei er- wachſene Menſchen, namentlich Weiber beim Waſſerſchöpfen am Fluß von dieſen fleiſchfreſſenden Eidechſen zerriſſen würden. Man erzählte uns die Geſchichte eines jungen Mädchens aus Uritucu, das ſich durch ſeltene Unerſchrockenheit und Geiſtes- gegenwart aus dem Rachen eines Krokodils gerettet. Sobald ſie ſich gepackt fühlte, griff ſie nach den Augen des Tieres und ſtieß ihre Finger mit ſolcher Gewalt hinein, daß das Krokodil vor Schmerz ſie fahren ließ, nachdem es ihr den linken Vorderarm abgeriſſen. Trotz des ungeheuren Blut- verluſtes gelangte die Indianerin, mit der übrig gebliebenen 1 Es iſt dies der Arue der Tamanaken, der Amana der May- puren, Cuviers Crocodilus acutus.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/28>, abgerufen am 28.03.2024.