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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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bald sie mit ihren Nachbarn in Fehde geraten. Das gegen-
seitige Mißtrauen ist bei diesen Horden um so stärker, da selbst
die, welche einander zunächst hausen, gänzlich verschiedene
Sprachen sprechen. Auf offenen Ebenen oder in Ländern mit
Grasfluren halten sich die Völkerschaften gerne nach der Stamm-
verwandtschaft, nach der Aehnlichkeit der Gebräuche und Mund-
arten zusammen. Auf dem tatarischen Hochland wie in Nord-
amerika sah man große Völkerfamilien in mehreren Marsch-
kolonnen über schwach bewaldete, leicht zugängliche Länder
fortziehen. Derart waren die Züge der toltekischen und azteki-
schen Rasse über die Hochebenen von Mexiko vom 6. bis zum
11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung; derart war vermut-
lich auch die Völkerströmung, in der sich die kleinen Stämme
in Kanada, die Mengwe (Irokesen) oder fünf Nationen, die
Algonkin oder Lenni-Lenape, die Chikesaws und die Mus-
kohgees vereinigten. Da aber der unermeßliche Landstrich
zwischen dem Aequator und dem 8. Breitengrad nur ein
Wald ist, so zerstreuten sich darin die Horden, indem sie den
Flußverzweigungen nachzogen, und die Beschaffenheit des
Bodens nötigte sie mehr oder weniger Ackerbauer zu werden.
So wirr ist das Labyrinth der Flüsse, daß die Familien sich
niederließen, ohne zu wissen, welche Menschenart zunächst neben
ihnen wohnte. In spanisch Guyana trennt zuweilen ein
Berg, ein 2 bis 3 km breiter Forst Horden, die zwei Tage
zu Wasser fahren müßten, um zusammenzukommen. So wirken
denn in offenen oder in der Kultur schon vorgeschrittenen
Ländern Flußverbindungen mächtig auf Verschmelzung der
Sprachen, der Sitten und der politischen Einrichtungen; da-
gegen in den undurchdringlichen Wäldern des heißen Land-
striches, wie im rohen Urzustand unseres Geschlechtes, zer-
schlagen sie große Völker in Bruchstücke, lassen sie Dialekte
zu Sprachen werden, die wie grundverschieden aussehen, nähren
sie das Mißtrauen und den Haß unter den Völkern. Zwi-
schen dem Caura und dem Padamo trägt alles den Stempel
der Zwietracht und der Schwäche. Die Menschen fliehen
einander, weil sie einander nicht verstehen; sie hassen sich,
weil sie einander fürchten.

Betrachtet man dieses wilde Gebiet Amerikas mit Auf-
merksamkeit, so glaubt man sich in die Urzeit versetzt, wo die
Erde sich allmählich bevölkerte; man meint die frühesten ge-
sellschaftlichen Bildungen vor seinen Augen entstehen zu sehen.
In der Alten Welt sehen wir, wie das Hirtenleben die Jäger-

bald ſie mit ihren Nachbarn in Fehde geraten. Das gegen-
ſeitige Mißtrauen iſt bei dieſen Horden um ſo ſtärker, da ſelbſt
die, welche einander zunächſt hauſen, gänzlich verſchiedene
Sprachen ſprechen. Auf offenen Ebenen oder in Ländern mit
Grasfluren halten ſich die Völkerſchaften gerne nach der Stamm-
verwandtſchaft, nach der Aehnlichkeit der Gebräuche und Mund-
arten zuſammen. Auf dem tatariſchen Hochland wie in Nord-
amerika ſah man große Völkerfamilien in mehreren Marſch-
kolonnen über ſchwach bewaldete, leicht zugängliche Länder
fortziehen. Derart waren die Züge der toltekiſchen und azteki-
ſchen Raſſe über die Hochebenen von Mexiko vom 6. bis zum
11. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung; derart war vermut-
lich auch die Völkerſtrömung, in der ſich die kleinen Stämme
in Kanada, die Mengwe (Irokeſen) oder fünf Nationen, die
Algonkin oder Lenni-Lenape, die Chikeſaws und die Mus-
kohgees vereinigten. Da aber der unermeßliche Landſtrich
zwiſchen dem Aequator und dem 8. Breitengrad nur ein
Wald iſt, ſo zerſtreuten ſich darin die Horden, indem ſie den
Flußverzweigungen nachzogen, und die Beſchaffenheit des
Bodens nötigte ſie mehr oder weniger Ackerbauer zu werden.
So wirr iſt das Labyrinth der Flüſſe, daß die Familien ſich
niederließen, ohne zu wiſſen, welche Menſchenart zunächſt neben
ihnen wohnte. In ſpaniſch Guyana trennt zuweilen ein
Berg, ein 2 bis 3 km breiter Forſt Horden, die zwei Tage
zu Waſſer fahren müßten, um zuſammenzukommen. So wirken
denn in offenen oder in der Kultur ſchon vorgeſchrittenen
Ländern Flußverbindungen mächtig auf Verſchmelzung der
Sprachen, der Sitten und der politiſchen Einrichtungen; da-
gegen in den undurchdringlichen Wäldern des heißen Land-
ſtriches, wie im rohen Urzuſtand unſeres Geſchlechtes, zer-
ſchlagen ſie große Völker in Bruchſtücke, laſſen ſie Dialekte
zu Sprachen werden, die wie grundverſchieden ausſehen, nähren
ſie das Mißtrauen und den Haß unter den Völkern. Zwi-
ſchen dem Caura und dem Padamo trägt alles den Stempel
der Zwietracht und der Schwäche. Die Menſchen fliehen
einander, weil ſie einander nicht verſtehen; ſie haſſen ſich,
weil ſie einander fürchten.

Betrachtet man dieſes wilde Gebiet Amerikas mit Auf-
merkſamkeit, ſo glaubt man ſich in die Urzeit verſetzt, wo die
Erde ſich allmählich bevölkerte; man meint die früheſten ge-
ſellſchaftlichen Bildungen vor ſeinen Augen entſtehen zu ſehen.
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[234/0242] bald ſie mit ihren Nachbarn in Fehde geraten. Das gegen- ſeitige Mißtrauen iſt bei dieſen Horden um ſo ſtärker, da ſelbſt die, welche einander zunächſt hauſen, gänzlich verſchiedene Sprachen ſprechen. Auf offenen Ebenen oder in Ländern mit Grasfluren halten ſich die Völkerſchaften gerne nach der Stamm- verwandtſchaft, nach der Aehnlichkeit der Gebräuche und Mund- arten zuſammen. Auf dem tatariſchen Hochland wie in Nord- amerika ſah man große Völkerfamilien in mehreren Marſch- kolonnen über ſchwach bewaldete, leicht zugängliche Länder fortziehen. Derart waren die Züge der toltekiſchen und azteki- ſchen Raſſe über die Hochebenen von Mexiko vom 6. bis zum 11. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung; derart war vermut- lich auch die Völkerſtrömung, in der ſich die kleinen Stämme in Kanada, die Mengwe (Irokeſen) oder fünf Nationen, die Algonkin oder Lenni-Lenape, die Chikeſaws und die Mus- kohgees vereinigten. Da aber der unermeßliche Landſtrich zwiſchen dem Aequator und dem 8. Breitengrad nur ein Wald iſt, ſo zerſtreuten ſich darin die Horden, indem ſie den Flußverzweigungen nachzogen, und die Beſchaffenheit des Bodens nötigte ſie mehr oder weniger Ackerbauer zu werden. So wirr iſt das Labyrinth der Flüſſe, daß die Familien ſich niederließen, ohne zu wiſſen, welche Menſchenart zunächſt neben ihnen wohnte. In ſpaniſch Guyana trennt zuweilen ein Berg, ein 2 bis 3 km breiter Forſt Horden, die zwei Tage zu Waſſer fahren müßten, um zuſammenzukommen. So wirken denn in offenen oder in der Kultur ſchon vorgeſchrittenen Ländern Flußverbindungen mächtig auf Verſchmelzung der Sprachen, der Sitten und der politiſchen Einrichtungen; da- gegen in den undurchdringlichen Wäldern des heißen Land- ſtriches, wie im rohen Urzuſtand unſeres Geſchlechtes, zer- ſchlagen ſie große Völker in Bruchſtücke, laſſen ſie Dialekte zu Sprachen werden, die wie grundverſchieden ausſehen, nähren ſie das Mißtrauen und den Haß unter den Völkern. Zwi- ſchen dem Caura und dem Padamo trägt alles den Stempel der Zwietracht und der Schwäche. Die Menſchen fliehen einander, weil ſie einander nicht verſtehen; ſie haſſen ſich, weil ſie einander fürchten. Betrachtet man dieſes wilde Gebiet Amerikas mit Auf- merkſamkeit, ſo glaubt man ſich in die Urzeit verſetzt, wo die Erde ſich allmählich bevölkerte; man meint die früheſten ge- ſellſchaftlichen Bildungen vor ſeinen Augen entſtehen zu ſehen. In der Alten Welt ſehen wir, wie das Hirtenleben die Jäger-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/242>, abgerufen am 29.03.2024.