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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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ähnlicheres Gesicht hat als der Orang-Utan,1 der sich den
Bart mit der Hand streicht, wenn man ihn reizt, das Mär-
chen vom Salvaje veranlaßt haben? Allerdings ist er nicht
so groß als der Coaita (Simia paniscus); wenn man ihn
aber oben auf einem Baume und nur den Kopf von ihm sieht,
könnte man ihn leicht für ein menschliches Wesen halten. Es
wäre auch möglich (und dies scheint mir das Wahrschein-
lichste), daß der Waldmensch einer der großen Bären ist,
deren Fußspur der menschlichen ähnlich ist und von denen
man in allen Ländern glaubt, daß sie Weiber anfallen. Das
Tier, das zu meiner Zeit am Fuße der Berge von Merida
geschossen und als ein Salvaje dem Obersten Ungaro, Statt-
halter der Provinz Varinas, geschickt wurde, war auch wirk-
lich nichts als ein Bär mit schwarzem, glänzendem Pelz.
Unser Reisegefährte Don Nicolas Soto hat denselben näher
untersucht. Die seltsame Vorstellung von einem Sohlengänger,
bei dem die Zehen so stehen, als ob er rückwärts ginge, sollte
sie etwa daher rühren, daß die wahren wilden Waldmenschen,
die schwächsten, furchtsamsten Indianerstämme, den Brauch
haben, wenn sie in den Wald oder über einen Uferstrich ziehen,
ihre Feinde dadurch irre zu machen, daß sie ihre Fußstapfen
mit Sand bedecken oder rückwärts gehen?

Ich habe angegeben, weshalb zu bezweifeln ist, daß es
eine unbekannte große Affenart auf einem Kontinente gibt,
wo gar keine Vierhänder aus der Familie des Orangs, Cyno-
cephali, Mandrils und Pongos vorzukommen scheinen. Es ist
aber nicht zu vergessen, daß jeder, auch der abgeschmackteste
Volksglaube auf wirklichen, nur unrichtig aufgefaßten Natur-
verhältnissen beruht. Wendet man sich von dergleichen Dingen
mit Geringschätzung ab, so kann man, in der Physik wie in
der Physiologie, leicht die Fährte einer Entdeckung verlieren.
Wir erklären daher auch keineswegs mit einem spanischen
Schriftsteller das Märchen vom Waldmenschen für eine pfiffige
Erfindung der indianischen Weiber, die entführt worden sein
wollen, wenn sie hinter ihren Männern lange ausgeblieben
sind; vielmehr fordern wir die Reisenden, die nach uns an
den Orinoko kommen, auf, unsere Untersuchungen hinsichtlich
des Salvaje oder großen Waldteufels wieder aufzunehmen
und zu ermitteln, ob eine unbekannte Bärenart oder ein sehr

1 Im Gesamtausdruck der Züge, nicht der Stirn nach.

ähnlicheres Geſicht hat als der Orang-Utan,1 der ſich den
Bart mit der Hand ſtreicht, wenn man ihn reizt, das Mär-
chen vom Salvaje veranlaßt haben? Allerdings iſt er nicht
ſo groß als der Coaïta (Simia paniscus); wenn man ihn
aber oben auf einem Baume und nur den Kopf von ihm ſieht,
könnte man ihn leicht für ein menſchliches Weſen halten. Es
wäre auch möglich (und dies ſcheint mir das Wahrſchein-
lichſte), daß der Waldmenſch einer der großen Bären iſt,
deren Fußſpur der menſchlichen ähnlich iſt und von denen
man in allen Ländern glaubt, daß ſie Weiber anfallen. Das
Tier, das zu meiner Zeit am Fuße der Berge von Merida
geſchoſſen und als ein Salvaje dem Oberſten Ungaro, Statt-
halter der Provinz Varinas, geſchickt wurde, war auch wirk-
lich nichts als ein Bär mit ſchwarzem, glänzendem Pelz.
Unſer Reiſegefährte Don Nicolas Soto hat denſelben näher
unterſucht. Die ſeltſame Vorſtellung von einem Sohlengänger,
bei dem die Zehen ſo ſtehen, als ob er rückwärts ginge, ſollte
ſie etwa daher rühren, daß die wahren wilden Waldmenſchen,
die ſchwächſten, furchtſamſten Indianerſtämme, den Brauch
haben, wenn ſie in den Wald oder über einen Uferſtrich ziehen,
ihre Feinde dadurch irre zu machen, daß ſie ihre Fußſtapfen
mit Sand bedecken oder rückwärts gehen?

Ich habe angegeben, weshalb zu bezweifeln iſt, daß es
eine unbekannte große Affenart auf einem Kontinente gibt,
wo gar keine Vierhänder aus der Familie des Orangs, Cyno-
cephali, Mandrils und Pongos vorzukommen ſcheinen. Es iſt
aber nicht zu vergeſſen, daß jeder, auch der abgeſchmackteſte
Volksglaube auf wirklichen, nur unrichtig aufgefaßten Natur-
verhältniſſen beruht. Wendet man ſich von dergleichen Dingen
mit Geringſchätzung ab, ſo kann man, in der Phyſik wie in
der Phyſiologie, leicht die Fährte einer Entdeckung verlieren.
Wir erklären daher auch keineswegs mit einem ſpaniſchen
Schriftſteller das Märchen vom Waldmenſchen für eine pfiffige
Erfindung der indianiſchen Weiber, die entführt worden ſein
wollen, wenn ſie hinter ihren Männern lange ausgeblieben
ſind; vielmehr fordern wir die Reiſenden, die nach uns an
den Orinoko kommen, auf, unſere Unterſuchungen hinſichtlich
des Salvaje oder großen Waldteufels wieder aufzunehmen
und zu ermitteln, ob eine unbekannte Bärenart oder ein ſehr

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[142/0150] ähnlicheres Geſicht hat als der Orang-Utan, 1 der ſich den Bart mit der Hand ſtreicht, wenn man ihn reizt, das Mär- chen vom Salvaje veranlaßt haben? Allerdings iſt er nicht ſo groß als der Coaïta (Simia paniscus); wenn man ihn aber oben auf einem Baume und nur den Kopf von ihm ſieht, könnte man ihn leicht für ein menſchliches Weſen halten. Es wäre auch möglich (und dies ſcheint mir das Wahrſchein- lichſte), daß der Waldmenſch einer der großen Bären iſt, deren Fußſpur der menſchlichen ähnlich iſt und von denen man in allen Ländern glaubt, daß ſie Weiber anfallen. Das Tier, das zu meiner Zeit am Fuße der Berge von Merida geſchoſſen und als ein Salvaje dem Oberſten Ungaro, Statt- halter der Provinz Varinas, geſchickt wurde, war auch wirk- lich nichts als ein Bär mit ſchwarzem, glänzendem Pelz. Unſer Reiſegefährte Don Nicolas Soto hat denſelben näher unterſucht. Die ſeltſame Vorſtellung von einem Sohlengänger, bei dem die Zehen ſo ſtehen, als ob er rückwärts ginge, ſollte ſie etwa daher rühren, daß die wahren wilden Waldmenſchen, die ſchwächſten, furchtſamſten Indianerſtämme, den Brauch haben, wenn ſie in den Wald oder über einen Uferſtrich ziehen, ihre Feinde dadurch irre zu machen, daß ſie ihre Fußſtapfen mit Sand bedecken oder rückwärts gehen? Ich habe angegeben, weshalb zu bezweifeln iſt, daß es eine unbekannte große Affenart auf einem Kontinente gibt, wo gar keine Vierhänder aus der Familie des Orangs, Cyno- cephali, Mandrils und Pongos vorzukommen ſcheinen. Es iſt aber nicht zu vergeſſen, daß jeder, auch der abgeſchmackteſte Volksglaube auf wirklichen, nur unrichtig aufgefaßten Natur- verhältniſſen beruht. Wendet man ſich von dergleichen Dingen mit Geringſchätzung ab, ſo kann man, in der Phyſik wie in der Phyſiologie, leicht die Fährte einer Entdeckung verlieren. Wir erklären daher auch keineswegs mit einem ſpaniſchen Schriftſteller das Märchen vom Waldmenſchen für eine pfiffige Erfindung der indianiſchen Weiber, die entführt worden ſein wollen, wenn ſie hinter ihren Männern lange ausgeblieben ſind; vielmehr fordern wir die Reiſenden, die nach uns an den Orinoko kommen, auf, unſere Unterſuchungen hinſichtlich des Salvaje oder großen Waldteufels wieder aufzunehmen und zu ermitteln, ob eine unbekannte Bärenart oder ein ſehr 1 Im Geſamtausdruck der Züge, nicht der Stirn nach.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/150>, abgerufen am 29.03.2024.