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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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dem behaarten Waldmenschen, dem sogenannten Salvaje
sprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen
Menschenfleisch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die
Maypures Vasitri oder den großen Teufel. Die Ein-
geborenen und die Missionäre zweifeln nicht an der Existenz
dieses menschenähnlichen Affen, vor dem sie sich sehr fürchten.
Pater Gili erzählt in vollem Ernste eine Geschichte von einer
Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenschen
wegen seiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beste
Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre sehr gut mit ihm und
ließ sich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer
Familie bringen, "weil sie, nebst ihren Kindern (die auch etwas
behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht
länger entbehren mochte". Bei aller Leichtgläubigkeit gesteht
dieser Schriftsteller, er habe keinen Indianer auftreiben können,
der ausdrücklich gesagt hätte, er habe den Salvaje mit
eigenen Augen gesehen. Dieses Märchen, das ohne Zweifel
von den Missionären, den spanischen Kolonisten und den
Negern aus Afrika mit verschiedenen Zügen aus der Sitten-
geschichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanse und
Pongo ausstaffiert worden ist, hat uns 5 Jahre lang in der
nördlichen wie in der südlichen Halbkugel verfolgt, und überall,
selbst in den gebildetsten Kreisen, nahm man es übel, daß
wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in
Amerika einen großen menschenähnlichen Affen gebe. Wir
bemerken zunächst, daß in gewissen Gegenden dieser Glaube
besonders stark unter dem Volke verbreitet ist, so namentlich
am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in
den Bergen von Santa Marta und Merida, im Distrikt von
Quixos und am Amazonenstrom bei Tomependa. An allen
diesen so weit auseinander gelegenen Orten kann man hören,
den Salvaje erkenne man leicht an seinen Fußstapfen denn
die Zehen seien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem
neuen Kontinent einen Affen von ansehnlicher Größe, wie
kommt es, daß sich seit 300 Jahren kein glaubwürdiger
Mann das Fell desselben hat verschaffen können? Was zu
so einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben
mag, darüber lassen sich mehrere Vermutungen aufstellen.
Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,1 dessen
Hundszähne über 14 mm lang sind, der ein viel menschen-

1 Simia chiropotes.

dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje
ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen
Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die
Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein-
geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz
dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten.
Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer
Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen
wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte
Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und
ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer
Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas
behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht
länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht
dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können,
der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit
eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel
von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den
Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten-
geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und
Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der
nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall,
ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß
wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in
Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir
bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube
beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich
am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in
den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von
Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen
dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören,
den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn
die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem
neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie
kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger
Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu
ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben
mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen.
Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,1 deſſen
Hundszähne über 14 mm lang ſind, der ein viel menſchen-

1 Simia chiropotes.
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[141/0149] dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein- geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten. Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können, der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten- geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall, ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören, den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen. Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda, 1 deſſen Hundszähne über 14 mm lang ſind, der ein viel menſchen- 1 Simia chiropotes.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/149>, abgerufen am 29.03.2024.