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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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geworden. Die wenigen Exemplare der meist im 17. Jahr-
hundert gedruckten amerikanischen Sprachlehren sind in die
Missionen gekommen und in den Wäldern zu Grunde ge-
gangen. Wegen der großen Feuchtigkeit und der Gefräßig-
keit der Insekten lassen sich in diesen heißen Ländern Bücher
fast gar nicht aufbewahren. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln
sind sie in kurzer Zeit gänzlich verdorben. Nur mit großer
Mühe konnte ich in den Missionen und Klöstern die Gramma-
tiken amerikanischer Sprachen zusammenbringen, die ich gleich
nach meiner Rückkehr nach Europa dem Professor und Biblio-
thekar Severin Vater zu Königsberg übermacht habe; sie
lieferten ihm gutes Material zu seinem schönen großen Werke
über die Sprachen der Neuen Welt. Ich hatte damals ver-
säumt, meine Notizen über die Chaymassprache aus meinem
Tagebuche abzuschreiben und diesem Gelehrten mitzuteilen. Da
weder Pater Gili, noch der Abt Hervas dieser Sprache erwäh-
nen, gebe ich hier kurz das Ergebnis meiner Untersuchungen.

Auf dem rechten Ufer des Orinoko, südöstlich von der
Mission Encaramada, über hundert Meilen von den Chaymas,
wohnen die Tamanaken (Tamanacu), deren Sprache in mehrere
Dialekte zerfällt. Diese einst sehr mächtige Nation ist auf
wenige Köpfe zusammengeschmolzen; sie ist von den Bergen
von Caripe durch den Orinoko, durch die großen Steppen von
Caracas und Cumana, und durch eine noch schwerer zu über-
steigende Schranke, durch Völker von karibischem Stamme
getrennt. Trotz dieser Entfernung und der vielfachen ört-
lichen Hindernisse erkennt man in der Sprache der Chaymas
einen Zweig der Tamanakensprache. Die ältesten Missionäre
in Caripe wissen nichts von dieser interessanten Beobachtung,
weil die aragonesischen Kapuziner fast nie an das südliche
Ufer des Orinoko kommen und von der Existenz der Tama-
naken so gut wie nichts wissen. Die Verwandtschaft zwischen
der Sprache dieses Volkes und der der Chaymas habe ich erst
lange nach meiner Rückkehr nach Europa aufgefunden, als
ich meine gesammelten Notizen mit einer Grammatik ver-
glich, die ein alter Missionär am Orinoko in Italien drucken
lassen. Ohne die Sprache der Chaymas zu kennen, hatte
schon der Abt Gili vermutet, daß die Sprache der Ein-
wohner von Paria mit dem Tamanacu verwandt sein müsse.

Ich thue diese Verwandtschaft auf dem doppelten Wege
dar, auf dem man die Analogie der Sprachen erkennt, durch
den grammatischen Bau und durch die Uebereinstimmung der

geworden. Die wenigen Exemplare der meiſt im 17. Jahr-
hundert gedruckten amerikaniſchen Sprachlehren ſind in die
Miſſionen gekommen und in den Wäldern zu Grunde ge-
gangen. Wegen der großen Feuchtigkeit und der Gefräßig-
keit der Inſekten laſſen ſich in dieſen heißen Ländern Bücher
faſt gar nicht aufbewahren. Trotz aller Vorſichtsmaßregeln
ſind ſie in kurzer Zeit gänzlich verdorben. Nur mit großer
Mühe konnte ich in den Miſſionen und Klöſtern die Gramma-
tiken amerikaniſcher Sprachen zuſammenbringen, die ich gleich
nach meiner Rückkehr nach Europa dem Profeſſor und Biblio-
thekar Severin Vater zu Königsberg übermacht habe; ſie
lieferten ihm gutes Material zu ſeinem ſchönen großen Werke
über die Sprachen der Neuen Welt. Ich hatte damals ver-
ſäumt, meine Notizen über die Chaymasſprache aus meinem
Tagebuche abzuſchreiben und dieſem Gelehrten mitzuteilen. Da
weder Pater Gili, noch der Abt Hervas dieſer Sprache erwäh-
nen, gebe ich hier kurz das Ergebnis meiner Unterſuchungen.

Auf dem rechten Ufer des Orinoko, ſüdöſtlich von der
Miſſion Encaramada, über hundert Meilen von den Chaymas,
wohnen die Tamanaken (Tamanacu), deren Sprache in mehrere
Dialekte zerfällt. Dieſe einſt ſehr mächtige Nation iſt auf
wenige Köpfe zuſammengeſchmolzen; ſie iſt von den Bergen
von Caripe durch den Orinoko, durch die großen Steppen von
Caracas und Cumana, und durch eine noch ſchwerer zu über-
ſteigende Schranke, durch Völker von karibiſchem Stamme
getrennt. Trotz dieſer Entfernung und der vielfachen ört-
lichen Hinderniſſe erkennt man in der Sprache der Chaymas
einen Zweig der Tamanakenſprache. Die älteſten Miſſionäre
in Caripe wiſſen nichts von dieſer intereſſanten Beobachtung,
weil die aragoneſiſchen Kapuziner faſt nie an das ſüdliche
Ufer des Orinoko kommen und von der Exiſtenz der Tama-
naken ſo gut wie nichts wiſſen. Die Verwandtſchaft zwiſchen
der Sprache dieſes Volkes und der der Chaymas habe ich erſt
lange nach meiner Rückkehr nach Europa aufgefunden, als
ich meine geſammelten Notizen mit einer Grammatik ver-
glich, die ein alter Miſſionär am Orinoko in Italien drucken
laſſen. Ohne die Sprache der Chaymas zu kennen, hatte
ſchon der Abt Gili vermutet, daß die Sprache der Ein-
wohner von Paria mit dem Tamanacu verwandt ſein müſſe.

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dar, auf dem man die Analogie der Sprachen erkennt, durch
den grammatiſchen Bau und durch die Uebereinſtimmung der

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[27/0035] geworden. Die wenigen Exemplare der meiſt im 17. Jahr- hundert gedruckten amerikaniſchen Sprachlehren ſind in die Miſſionen gekommen und in den Wäldern zu Grunde ge- gangen. Wegen der großen Feuchtigkeit und der Gefräßig- keit der Inſekten laſſen ſich in dieſen heißen Ländern Bücher faſt gar nicht aufbewahren. Trotz aller Vorſichtsmaßregeln ſind ſie in kurzer Zeit gänzlich verdorben. Nur mit großer Mühe konnte ich in den Miſſionen und Klöſtern die Gramma- tiken amerikaniſcher Sprachen zuſammenbringen, die ich gleich nach meiner Rückkehr nach Europa dem Profeſſor und Biblio- thekar Severin Vater zu Königsberg übermacht habe; ſie lieferten ihm gutes Material zu ſeinem ſchönen großen Werke über die Sprachen der Neuen Welt. Ich hatte damals ver- ſäumt, meine Notizen über die Chaymasſprache aus meinem Tagebuche abzuſchreiben und dieſem Gelehrten mitzuteilen. Da weder Pater Gili, noch der Abt Hervas dieſer Sprache erwäh- nen, gebe ich hier kurz das Ergebnis meiner Unterſuchungen. Auf dem rechten Ufer des Orinoko, ſüdöſtlich von der Miſſion Encaramada, über hundert Meilen von den Chaymas, wohnen die Tamanaken (Tamanacu), deren Sprache in mehrere Dialekte zerfällt. Dieſe einſt ſehr mächtige Nation iſt auf wenige Köpfe zuſammengeſchmolzen; ſie iſt von den Bergen von Caripe durch den Orinoko, durch die großen Steppen von Caracas und Cumana, und durch eine noch ſchwerer zu über- ſteigende Schranke, durch Völker von karibiſchem Stamme getrennt. Trotz dieſer Entfernung und der vielfachen ört- lichen Hinderniſſe erkennt man in der Sprache der Chaymas einen Zweig der Tamanakenſprache. Die älteſten Miſſionäre in Caripe wiſſen nichts von dieſer intereſſanten Beobachtung, weil die aragoneſiſchen Kapuziner faſt nie an das ſüdliche Ufer des Orinoko kommen und von der Exiſtenz der Tama- naken ſo gut wie nichts wiſſen. Die Verwandtſchaft zwiſchen der Sprache dieſes Volkes und der der Chaymas habe ich erſt lange nach meiner Rückkehr nach Europa aufgefunden, als ich meine geſammelten Notizen mit einer Grammatik ver- glich, die ein alter Miſſionär am Orinoko in Italien drucken laſſen. Ohne die Sprache der Chaymas zu kennen, hatte ſchon der Abt Gili vermutet, daß die Sprache der Ein- wohner von Paria mit dem Tamanacu verwandt ſein müſſe. Ich thue dieſe Verwandtſchaft auf dem doppelten Wege dar, auf dem man die Analogie der Sprachen erkennt, durch den grammatiſchen Bau und durch die Uebereinſtimmung der

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/35>, abgerufen am 24.04.2024.