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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Mangelhaftigkeit der Sprachen zu, was nur auf Rechnung
der Roheit der Völker kommt. Man erkennt an, daß fast
überall die Mundarten reicher sind und feinere Wendungen
aufzuweisen haben, als man nach der Kulturlosigkeit der
Völker, die sie sprechen, vermuten sollte. Ich bin weit ent-
fernt, die Sprachen der Neuen Welt den schönsten Sprachen
Asiens und Europas gleichstellen zu wollen; aber keine von
diesen hat ein klareres, regelmäßigeres und einfacheres Zahl-
system als das Qquichua und das Aztekische, die in den
großen Reichen Cuzco und Anahuac gesprochen wurden.
Dürfte man nun sagen, in diesen Sprachen zähle man nicht
über vier, weil es in den Dörfern, wo sich dieselben unter
den armen Bauern von peruanischem oder mexikanischem
Stamm erhalten haben, Menschen gibt, die nicht weiter zählen
können? Die seltsame Ansicht, nach der so viele Völker
Amerikas nur bis zu fünf, zehn oder zwanzig sollen zählen
können, ist durch Reisende aufgekommen, die nicht wußten,
daß die Menschen, je nach dem Geist der verschiedenen Mund-
arten, in allen Himmelsstrichen nach fünf, zehn oder zwanzig
Einheiten (das heißt nach den Fingern einer Hand, beider
Hände, der Hände und Füße zusammen) einen Abschnitt
machen, und daß sechs, dreizehn oder zwanzig auf verschiedene
Weise durch fünf eins, zehn drei und "Fuß zehn" ausgedrückt
werden. Kann man sagen, die Zahlen der Europäer gehen
nicht über zehn, weil wir Halt machen, wenn eine Gruppe
von zehn Einheiten beisammen ist?

Die amerikanischen Sprachen sind so ganz anders gebaut,
als die Töchtersprachen des Lateinischen, daß die Jesuiten,
welche alles, was ihre Anstalten fördern konnte, aufs sorg-
fältigste in Betracht zogen, bei den Neubekehrten statt des
Spanischen einige indianische sehr reiche, sehr regelmäßige und
weit verbreitete Sprachen, namentlich das Qquichua und das
Guarani, einführten. Sie suchten durch diese Sprachen die
ärmeren, plumperen, im Satzbau nicht so regelmäßigen Mund-
arten zu verdrängen. Und der Tausch gelang ohne alle
Schwierigkeit; die Indianer verschiedener Stämme ließen sich
ganz gelehrig dazu herbei, und so wurden diese verallgemei-
nerten amerikanischen Sprachen zu einem bequemen Verkehrs-
mittel zwischen den Missionären und den Neubekehrten. Mit
Unrecht würde man glauben, der Sprache der Inka sei nur
darum der Vorzug vor dem Spanischen gegeben worden, um
die Missionen zu isolieren und sie dem Einfluß zweier auf-

Mangelhaftigkeit der Sprachen zu, was nur auf Rechnung
der Roheit der Völker kommt. Man erkennt an, daß faſt
überall die Mundarten reicher ſind und feinere Wendungen
aufzuweiſen haben, als man nach der Kulturloſigkeit der
Völker, die ſie ſprechen, vermuten ſollte. Ich bin weit ent-
fernt, die Sprachen der Neuen Welt den ſchönſten Sprachen
Aſiens und Europas gleichſtellen zu wollen; aber keine von
dieſen hat ein klareres, regelmäßigeres und einfacheres Zahl-
ſyſtem als das Qquichua und das Aztekiſche, die in den
großen Reichen Cuzco und Anahuac geſprochen wurden.
Dürfte man nun ſagen, in dieſen Sprachen zähle man nicht
über vier, weil es in den Dörfern, wo ſich dieſelben unter
den armen Bauern von peruaniſchem oder mexikaniſchem
Stamm erhalten haben, Menſchen gibt, die nicht weiter zählen
können? Die ſeltſame Anſicht, nach der ſo viele Völker
Amerikas nur bis zu fünf, zehn oder zwanzig ſollen zählen
können, iſt durch Reiſende aufgekommen, die nicht wußten,
daß die Menſchen, je nach dem Geiſt der verſchiedenen Mund-
arten, in allen Himmelsſtrichen nach fünf, zehn oder zwanzig
Einheiten (das heißt nach den Fingern einer Hand, beider
Hände, der Hände und Füße zuſammen) einen Abſchnitt
machen, und daß ſechs, dreizehn oder zwanzig auf verſchiedene
Weiſe durch fünf eins, zehn drei und „Fuß zehn“ ausgedrückt
werden. Kann man ſagen, die Zahlen der Europäer gehen
nicht über zehn, weil wir Halt machen, wenn eine Gruppe
von zehn Einheiten beiſammen iſt?

Die amerikaniſchen Sprachen ſind ſo ganz anders gebaut,
als die Töchterſprachen des Lateiniſchen, daß die Jeſuiten,
welche alles, was ihre Anſtalten fördern konnte, aufs ſorg-
fältigſte in Betracht zogen, bei den Neubekehrten ſtatt des
Spaniſchen einige indianiſche ſehr reiche, ſehr regelmäßige und
weit verbreitete Sprachen, namentlich das Qquichua und das
Guarani, einführten. Sie ſuchten durch dieſe Sprachen die
ärmeren, plumperen, im Satzbau nicht ſo regelmäßigen Mund-
arten zu verdrängen. Und der Tauſch gelang ohne alle
Schwierigkeit; die Indianer verſchiedener Stämme ließen ſich
ganz gelehrig dazu herbei, und ſo wurden dieſe verallgemei-
nerten amerikaniſchen Sprachen zu einem bequemen Verkehrs-
mittel zwiſchen den Miſſionären und den Neubekehrten. Mit
Unrecht würde man glauben, der Sprache der Inka ſei nur
darum der Vorzug vor dem Spaniſchen gegeben worden, um
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[22/0030] Mangelhaftigkeit der Sprachen zu, was nur auf Rechnung der Roheit der Völker kommt. Man erkennt an, daß faſt überall die Mundarten reicher ſind und feinere Wendungen aufzuweiſen haben, als man nach der Kulturloſigkeit der Völker, die ſie ſprechen, vermuten ſollte. Ich bin weit ent- fernt, die Sprachen der Neuen Welt den ſchönſten Sprachen Aſiens und Europas gleichſtellen zu wollen; aber keine von dieſen hat ein klareres, regelmäßigeres und einfacheres Zahl- ſyſtem als das Qquichua und das Aztekiſche, die in den großen Reichen Cuzco und Anahuac geſprochen wurden. Dürfte man nun ſagen, in dieſen Sprachen zähle man nicht über vier, weil es in den Dörfern, wo ſich dieſelben unter den armen Bauern von peruaniſchem oder mexikaniſchem Stamm erhalten haben, Menſchen gibt, die nicht weiter zählen können? Die ſeltſame Anſicht, nach der ſo viele Völker Amerikas nur bis zu fünf, zehn oder zwanzig ſollen zählen können, iſt durch Reiſende aufgekommen, die nicht wußten, daß die Menſchen, je nach dem Geiſt der verſchiedenen Mund- arten, in allen Himmelsſtrichen nach fünf, zehn oder zwanzig Einheiten (das heißt nach den Fingern einer Hand, beider Hände, der Hände und Füße zuſammen) einen Abſchnitt machen, und daß ſechs, dreizehn oder zwanzig auf verſchiedene Weiſe durch fünf eins, zehn drei und „Fuß zehn“ ausgedrückt werden. Kann man ſagen, die Zahlen der Europäer gehen nicht über zehn, weil wir Halt machen, wenn eine Gruppe von zehn Einheiten beiſammen iſt? Die amerikaniſchen Sprachen ſind ſo ganz anders gebaut, als die Töchterſprachen des Lateiniſchen, daß die Jeſuiten, welche alles, was ihre Anſtalten fördern konnte, aufs ſorg- fältigſte in Betracht zogen, bei den Neubekehrten ſtatt des Spaniſchen einige indianiſche ſehr reiche, ſehr regelmäßige und weit verbreitete Sprachen, namentlich das Qquichua und das Guarani, einführten. Sie ſuchten durch dieſe Sprachen die ärmeren, plumperen, im Satzbau nicht ſo regelmäßigen Mund- arten zu verdrängen. Und der Tauſch gelang ohne alle Schwierigkeit; die Indianer verſchiedener Stämme ließen ſich ganz gelehrig dazu herbei, und ſo wurden dieſe verallgemei- nerten amerikaniſchen Sprachen zu einem bequemen Verkehrs- mittel zwiſchen den Miſſionären und den Neubekehrten. Mit Unrecht würde man glauben, der Sprache der Inka ſei nur darum der Vorzug vor dem Spaniſchen gegeben worden, um die Miſſionen zu iſolieren und ſie dem Einfluß zweier auf-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/30>, abgerufen am 25.04.2024.