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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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des Eiferns der Mönche, Männer und Weiber im Inneren
der Häuser nackt. Wenn sie durch das Dorf gehen, tragen
sie eine Art Hemd aus Baumwollenzeug, das kaum bis zum
Knie reicht. Bei den Männern hat dasselbe Aermel, bei den
Weibern und den Jungen bis zum zehnten, zwölften Jahre
bleiben Arme, Schultern und der obere Teil der Brust frei.
Das Hemd ist so geschnitten, daß Vorderstück und Rückenstück
durch zwei schmale Bänder auf der Schulter zusammenhängen.
Es kam vor, daß wir Eingeborenen außerhalb der Mission
begegneten, die, namentlich bei Regenwetter, ihr Hemd aus-
gezogen hatten und es aufgerollt unter dem Arm trugen.
Sie wollten sich lieber auf den bloßen Leib regnen als
ihre Kleider naß werden lassen. Die ältesten Weiber
versteckten sich dabei hinter die Bäume und schlugen ein lautes
Gelächter auf, wenn wir an ihnen vorüber kamen. Die Mis-
sionäre klagen meist, daß Scham und Gefühl für das An-
ständige bei den jungen Mädchen nicht viel entwickelter seien
als bei den Männern. Schon Ferdinand Kolumbus erzählt,
sein Vater habe im Jahr 1498 auf der Insel Trinidad völlig
nackte Weiber angetroffen, während die Männer den Guayuco
trugen, der viel mehr eine schmale Binde ist als eine Schürze.
Zur selben Zeit unterschieden sich auf der Küste von Paria
die Mädchen von den verheirateten Weibern dadurch, daß sie,
wie Kardinal Bembo behauptet, ganz nackt gingen, oder, nach
Gomara, dadurch, daß sie einen anders gefärbten Guayuco
trugen. Diese Binde, die wir noch bei den Chaymas und
allen nackten Völkerschaften am Orinoko angetroffen, ist nur
5 bis 7 cm breit und wird mit beiden Enden an einer Schnur
befestigt, die mitten um den Leib gebunden ist. Die Mädchen
heiraten häufig mit zwölf Jahren; bis zum neunten gestatten
ihnen die Missionäre, nackt, das heißt ohne Hemd, zur Kirche
zu kommen. Ich brauche hier nicht daran zu erinnern, daß
bei den Chaymas, wie in allen spanischen Missionen und india-
nischen Dörfern, die ich besucht, Beinkleider, Schuhe und Hut
Luxusartikel sind, von denen die Eingeborenen nichts wissen.
Ein Diener, der uns auf der Reise nach Charipe und an den
Orinoko begleitet, und den ich mit nach Frankreich gebracht,
konnte sich, nachdem wir ans Land gestiegen, nicht genug ver-
wundern, als er einen Bauern mit dem Hut auf dem Kopf
ackern sah, und er glaubte "in einem armseligen Lande zu
sein, wo sogar die Edelleute (los mismos caballeros) hinter
dem Pfluge gehen".


des Eiferns der Mönche, Männer und Weiber im Inneren
der Häuſer nackt. Wenn ſie durch das Dorf gehen, tragen
ſie eine Art Hemd aus Baumwollenzeug, das kaum bis zum
Knie reicht. Bei den Männern hat dasſelbe Aermel, bei den
Weibern und den Jungen bis zum zehnten, zwölften Jahre
bleiben Arme, Schultern und der obere Teil der Bruſt frei.
Das Hemd iſt ſo geſchnitten, daß Vorderſtück und Rückenſtück
durch zwei ſchmale Bänder auf der Schulter zuſammenhängen.
Es kam vor, daß wir Eingeborenen außerhalb der Miſſion
begegneten, die, namentlich bei Regenwetter, ihr Hemd aus-
gezogen hatten und es aufgerollt unter dem Arm trugen.
Sie wollten ſich lieber auf den bloßen Leib regnen als
ihre Kleider naß werden laſſen. Die älteſten Weiber
verſteckten ſich dabei hinter die Bäume und ſchlugen ein lautes
Gelächter auf, wenn wir an ihnen vorüber kamen. Die Miſ-
ſionäre klagen meiſt, daß Scham und Gefühl für das An-
ſtändige bei den jungen Mädchen nicht viel entwickelter ſeien
als bei den Männern. Schon Ferdinand Kolumbus erzählt,
ſein Vater habe im Jahr 1498 auf der Inſel Trinidad völlig
nackte Weiber angetroffen, während die Männer den Guayuco
trugen, der viel mehr eine ſchmale Binde iſt als eine Schürze.
Zur ſelben Zeit unterſchieden ſich auf der Küſte von Paria
die Mädchen von den verheirateten Weibern dadurch, daß ſie,
wie Kardinal Bembo behauptet, ganz nackt gingen, oder, nach
Gomara, dadurch, daß ſie einen anders gefärbten Guayuco
trugen. Dieſe Binde, die wir noch bei den Chaymas und
allen nackten Völkerſchaften am Orinoko angetroffen, iſt nur
5 bis 7 cm breit und wird mit beiden Enden an einer Schnur
befeſtigt, die mitten um den Leib gebunden iſt. Die Mädchen
heiraten häufig mit zwölf Jahren; bis zum neunten geſtatten
ihnen die Miſſionäre, nackt, das heißt ohne Hemd, zur Kirche
zu kommen. Ich brauche hier nicht daran zu erinnern, daß
bei den Chaymas, wie in allen ſpaniſchen Miſſionen und india-
niſchen Dörfern, die ich beſucht, Beinkleider, Schuhe und Hut
Luxusartikel ſind, von denen die Eingeborenen nichts wiſſen.
Ein Diener, der uns auf der Reiſe nach Charipe und an den
Orinoko begleitet, und den ich mit nach Frankreich gebracht,
konnte ſich, nachdem wir ans Land geſtiegen, nicht genug ver-
wundern, als er einen Bauern mit dem Hut auf dem Kopf
ackern ſah, und er glaubte „in einem armſeligen Lande zu
ſein, wo ſogar die Edelleute (los mismos caballeros) hinter
dem Pfluge gehen“.


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[16/0024] des Eiferns der Mönche, Männer und Weiber im Inneren der Häuſer nackt. Wenn ſie durch das Dorf gehen, tragen ſie eine Art Hemd aus Baumwollenzeug, das kaum bis zum Knie reicht. Bei den Männern hat dasſelbe Aermel, bei den Weibern und den Jungen bis zum zehnten, zwölften Jahre bleiben Arme, Schultern und der obere Teil der Bruſt frei. Das Hemd iſt ſo geſchnitten, daß Vorderſtück und Rückenſtück durch zwei ſchmale Bänder auf der Schulter zuſammenhängen. Es kam vor, daß wir Eingeborenen außerhalb der Miſſion begegneten, die, namentlich bei Regenwetter, ihr Hemd aus- gezogen hatten und es aufgerollt unter dem Arm trugen. Sie wollten ſich lieber auf den bloßen Leib regnen als ihre Kleider naß werden laſſen. Die älteſten Weiber verſteckten ſich dabei hinter die Bäume und ſchlugen ein lautes Gelächter auf, wenn wir an ihnen vorüber kamen. Die Miſ- ſionäre klagen meiſt, daß Scham und Gefühl für das An- ſtändige bei den jungen Mädchen nicht viel entwickelter ſeien als bei den Männern. Schon Ferdinand Kolumbus erzählt, ſein Vater habe im Jahr 1498 auf der Inſel Trinidad völlig nackte Weiber angetroffen, während die Männer den Guayuco trugen, der viel mehr eine ſchmale Binde iſt als eine Schürze. Zur ſelben Zeit unterſchieden ſich auf der Küſte von Paria die Mädchen von den verheirateten Weibern dadurch, daß ſie, wie Kardinal Bembo behauptet, ganz nackt gingen, oder, nach Gomara, dadurch, daß ſie einen anders gefärbten Guayuco trugen. Dieſe Binde, die wir noch bei den Chaymas und allen nackten Völkerſchaften am Orinoko angetroffen, iſt nur 5 bis 7 cm breit und wird mit beiden Enden an einer Schnur befeſtigt, die mitten um den Leib gebunden iſt. Die Mädchen heiraten häufig mit zwölf Jahren; bis zum neunten geſtatten ihnen die Miſſionäre, nackt, das heißt ohne Hemd, zur Kirche zu kommen. Ich brauche hier nicht daran zu erinnern, daß bei den Chaymas, wie in allen ſpaniſchen Miſſionen und india- niſchen Dörfern, die ich beſucht, Beinkleider, Schuhe und Hut Luxusartikel ſind, von denen die Eingeborenen nichts wiſſen. Ein Diener, der uns auf der Reiſe nach Charipe und an den Orinoko begleitet, und den ich mit nach Frankreich gebracht, konnte ſich, nachdem wir ans Land geſtiegen, nicht genug ver- wundern, als er einen Bauern mit dem Hut auf dem Kopf ackern ſah, und er glaubte „in einem armſeligen Lande zu ſein, wo ſogar die Edelleute (los mismos caballeros) hinter dem Pfluge gehen“.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/24>, abgerufen am 25.04.2024.