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Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799.

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Im Dämmerlichte entschwand mir ihr Bild und ich weiß nicht, ob sie es wirklich war, da ich zum leztenmale mich umwandt' und die erlöschende Gestalt noch einen Augenblik vor meinem Auge zükte und dann in die Nacht verschied.

Hyperion an Bellarmin.

Warum erzähl' ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir? Ists nicht genug, Einmal das Sterbliche durchwandert zu haben? warum bleib' ich im Frieden meines Geistes nicht stille?

Darum, mein Bellarmin! weil jeder Athemzug des Lebens unserm Herzen werth bleibt, weil alle Verwandlungen der reinen Natur auch mit zu ihrer Schöne gehören. Unsre Seele, wenn sie die sterblichen Erfahrungen ablegt und allein nur lebt in heiliger Ruhe, ist sie nicht, wie ein unbelaubter Baum? wie ein Haupt ohne Loken? Lieber Bellarmin! ich habe eine Weile geruht; wie ein Kind, hab' ich unter den stillen Hügeln von Salamis gelebt, vergessen des Schiksaals und des Strebens der Menschen. Seitdem ist manches anders in meinem Auge geworden, und ich habe nun

Im Dämmerlichte entschwand mir ihr Bild und ich weiß nicht, ob sie es wirklich war, da ich zum leztenmale mich umwandt’ und die erlöschende Gestalt noch einen Augenblik vor meinem Auge zükte und dann in die Nacht verschied.

Hyperion an Bellarmin.

Warum erzähl’ ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir? Ists nicht genug, Einmal das Sterbliche durchwandert zu haben? warum bleib’ ich im Frieden meines Geistes nicht stille?

Darum, mein Bellarmin! weil jeder Athemzug des Lebens unserm Herzen werth bleibt, weil alle Verwandlungen der reinen Natur auch mit zu ihrer Schöne gehören. Unsre Seele, wenn sie die sterblichen Erfahrungen ablegt und allein nur lebt in heiliger Ruhe, ist sie nicht, wie ein unbelaubter Baum? wie ein Haupt ohne Loken? Lieber Bellarmin! ich habe eine Weile geruht; wie ein Kind, hab’ ich unter den stillen Hügeln von Salamis gelebt, vergessen des Schiksaals und des Strebens der Menschen. Seitdem ist manches anders in meinem Auge geworden, und ich habe nun

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Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion02_1799/20>, abgerufen am 29.03.2024.