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Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797.

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Honig reichte die Natur und die schönsten Veilchen und Myrthen und Oliven.

Die Natur war Priesterin und der Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und jede Gestalt und jeder Ton von ihr nur Ein begeistertes Echo des Herrlichen, dem sie gehörte.

Ihn feiert', ihm nur opferte sie.

Er war es auch werth, er mochte liebend in der heiligen Werkstatt sizen und dem Götterbilde, das er gemacht, die Kniee umfassen, oder auf dem Vorgebirge, auf Suniums grüner Spize, unter den horchenden Schülern gelagert, sich die Zeit verkürzen mit hohen Gedanken, oder er mocht' im Stadium laufen, oder vom Rednerstuhle, wie der Gewittergott, Regen und Sonnenschein und Blize senden und goldene Wolken -

O siehe! rief jezt Diotima mir plözlich zu.

Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblik.

Wie ein unermesslicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nakten Stämme eines

Honig reichte die Natur und die schönsten Veilchen und Myrthen und Oliven.

Die Natur war Priesterin und der Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und jede Gestalt und jeder Ton von ihr nur Ein begeistertes Echo des Herrlichen, dem sie gehörte.

Ihn feiert’, ihm nur opferte sie.

Er war es auch werth, er mochte liebend in der heiligen Werkstatt sizen und dem Götterbilde, das er gemacht, die Kniee umfassen, oder auf dem Vorgebirge, auf Suniums grüner Spize, unter den horchenden Schülern gelagert, sich die Zeit verkürzen mit hohen Gedanken, oder er mocht’ im Stadium laufen, oder vom Rednerstuhle, wie der Gewittergott, Regen und Sonnenschein und Blize senden und goldene Wolken –

O siehe! rief jezt Diotima mir plözlich zu.

Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblik.

Wie ein unermesslicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nakten Stämme eines

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[0157] Honig reichte die Natur und die schönsten Veilchen und Myrthen und Oliven. Die Natur war Priesterin und der Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und jede Gestalt und jeder Ton von ihr nur Ein begeistertes Echo des Herrlichen, dem sie gehörte. Ihn feiert’, ihm nur opferte sie. Er war es auch werth, er mochte liebend in der heiligen Werkstatt sizen und dem Götterbilde, das er gemacht, die Kniee umfassen, oder auf dem Vorgebirge, auf Suniums grüner Spize, unter den horchenden Schülern gelagert, sich die Zeit verkürzen mit hohen Gedanken, oder er mocht’ im Stadium laufen, oder vom Rednerstuhle, wie der Gewittergott, Regen und Sonnenschein und Blize senden und goldene Wolken – O siehe! rief jezt Diotima mir plözlich zu. Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblik. Wie ein unermesslicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nakten Stämme eines

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Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion01_1797/157>, abgerufen am 29.03.2024.