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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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der Landschaft und ihren Wirkungen.
Kloster. -- Die letzte und wichtigste, wo nicht die schönste von allen Einsiedlerwoh-
nungen ist die zu St. Dimas. Sie ist auf allen Seiten von steilen und fürchter-
lichen Abgründen umgeben; man kann nur von Osten durch eine Zugbrücke hinzu-
kommen; und ist diese aufgezogen, so wird aller Zugang unmöglich. Sie hängt
fast über dem Gebäude des Klosters, und hat eine sehr weitläuftige und prächtige
Aussicht gegen Süden und Norden. -- Der viele Regen, der von diesem Berge
seit seiner Schöpfung herabgefallen ist, hat rund um den ganzen Fuß einen erstau-
nend weiten und tiefen Einschnitt gemacht, der dem Bette eines großen ausgetrock-
neten Flusses gleichet. In diesem Graben liegen unzählige ungeheure Stücke des
Berges, die von einem Jahrhundert zum andern heruntergestürzt sind; daher ist der
ganze untere Umfang des Berges so voll von so außerordentlichen Spitzen, als der
obere; außerdem sind viele kleine Plätze unten an den Seiten des Berges mit hohen
Bäumen und natürlichen Brunnen so geziert, daß man nicht weiß, welcher Theil
der bezauberten Gegend der schönste ist. Eine Woche ist nicht einmal hinreichend,
die Hälfte der kleinern Schönheiten zu besehen, die dieser große und bewundernswür-
dige Berg an allen Seiten von der obersten Spitze bis an die untersten Grundsteine
darbietet."

Diese ungeheuren Massen von Felsspitzen und Abgründen, diese kühnen Lagen
und ausgebreiteten Aussichten, diese Untermischung mit so mannigfaltigen Einsiede-
leyen bilden hier eine Gegend, die vielleicht auf der ganzen Erdfläche nicht feyerlicher
und erhabener gefunden wird.

6.

Wir sehen, wie die Natur Gegenden von verschiedenen Charakteren und Ein-
wirkungen bildet. Allein diese natürlichen Charaktere können noch auf eine man-
nigfaltige Weise durch die Hand des Menschen verstärkt werden. So kann eine
muntre Gegend durch eine Schäferhütte oder ein Landhaus, eine melancholische durch
ein Kloster oder eine Urne, eine romantische durch gothische Ruinen, eine feyerliche
durch Tempel, oder wie wir bey Montserrat gesehen, durch eine Menge von Ein-
siedeleyen, sehr viel an Einwirkung gewinnen. Wenn diese Gebäude und Monu-
mente mit den Gegenden, für welche sie sich ihrer Natur nach schicken, in Verbin-

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der Landſchaft und ihren Wirkungen.
Kloſter. — Die letzte und wichtigſte, wo nicht die ſchoͤnſte von allen Einſiedlerwoh-
nungen iſt die zu St. Dimas. Sie iſt auf allen Seiten von ſteilen und fuͤrchter-
lichen Abgruͤnden umgeben; man kann nur von Oſten durch eine Zugbruͤcke hinzu-
kommen; und iſt dieſe aufgezogen, ſo wird aller Zugang unmoͤglich. Sie haͤngt
faſt uͤber dem Gebaͤude des Kloſters, und hat eine ſehr weitlaͤuftige und praͤchtige
Ausſicht gegen Suͤden und Norden. — Der viele Regen, der von dieſem Berge
ſeit ſeiner Schoͤpfung herabgefallen iſt, hat rund um den ganzen Fuß einen erſtau-
nend weiten und tiefen Einſchnitt gemacht, der dem Bette eines großen ausgetrock-
neten Fluſſes gleichet. In dieſem Graben liegen unzaͤhlige ungeheure Stuͤcke des
Berges, die von einem Jahrhundert zum andern heruntergeſtuͤrzt ſind; daher iſt der
ganze untere Umfang des Berges ſo voll von ſo außerordentlichen Spitzen, als der
obere; außerdem ſind viele kleine Plaͤtze unten an den Seiten des Berges mit hohen
Baͤumen und natuͤrlichen Brunnen ſo geziert, daß man nicht weiß, welcher Theil
der bezauberten Gegend der ſchoͤnſte iſt. Eine Woche iſt nicht einmal hinreichend,
die Haͤlfte der kleinern Schoͤnheiten zu beſehen, die dieſer große und bewundernswuͤr-
dige Berg an allen Seiten von der oberſten Spitze bis an die unterſten Grundſteine
darbietet.“

Dieſe ungeheuren Maſſen von Felsſpitzen und Abgruͤnden, dieſe kuͤhnen Lagen
und ausgebreiteten Ausſichten, dieſe Untermiſchung mit ſo mannigfaltigen Einſiede-
leyen bilden hier eine Gegend, die vielleicht auf der ganzen Erdflaͤche nicht feyerlicher
und erhabener gefunden wird.

6.

Wir ſehen, wie die Natur Gegenden von verſchiedenen Charakteren und Ein-
wirkungen bildet. Allein dieſe natuͤrlichen Charaktere koͤnnen noch auf eine man-
nigfaltige Weiſe durch die Hand des Menſchen verſtaͤrkt werden. So kann eine
muntre Gegend durch eine Schaͤferhuͤtte oder ein Landhaus, eine melancholiſche durch
ein Kloſter oder eine Urne, eine romantiſche durch gothiſche Ruinen, eine feyerliche
durch Tempel, oder wie wir bey Montſerrat geſehen, durch eine Menge von Ein-
ſiedeleyen, ſehr viel an Einwirkung gewinnen. Wenn dieſe Gebaͤude und Monu-
mente mit den Gegenden, fuͤr welche ſie ſich ihrer Natur nach ſchicken, in Verbin-

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[227/0241] der Landſchaft und ihren Wirkungen. Kloſter. — Die letzte und wichtigſte, wo nicht die ſchoͤnſte von allen Einſiedlerwoh- nungen iſt die zu St. Dimas. Sie iſt auf allen Seiten von ſteilen und fuͤrchter- lichen Abgruͤnden umgeben; man kann nur von Oſten durch eine Zugbruͤcke hinzu- kommen; und iſt dieſe aufgezogen, ſo wird aller Zugang unmoͤglich. Sie haͤngt faſt uͤber dem Gebaͤude des Kloſters, und hat eine ſehr weitlaͤuftige und praͤchtige Ausſicht gegen Suͤden und Norden. — Der viele Regen, der von dieſem Berge ſeit ſeiner Schoͤpfung herabgefallen iſt, hat rund um den ganzen Fuß einen erſtau- nend weiten und tiefen Einſchnitt gemacht, der dem Bette eines großen ausgetrock- neten Fluſſes gleichet. In dieſem Graben liegen unzaͤhlige ungeheure Stuͤcke des Berges, die von einem Jahrhundert zum andern heruntergeſtuͤrzt ſind; daher iſt der ganze untere Umfang des Berges ſo voll von ſo außerordentlichen Spitzen, als der obere; außerdem ſind viele kleine Plaͤtze unten an den Seiten des Berges mit hohen Baͤumen und natuͤrlichen Brunnen ſo geziert, daß man nicht weiß, welcher Theil der bezauberten Gegend der ſchoͤnſte iſt. Eine Woche iſt nicht einmal hinreichend, die Haͤlfte der kleinern Schoͤnheiten zu beſehen, die dieſer große und bewundernswuͤr- dige Berg an allen Seiten von der oberſten Spitze bis an die unterſten Grundſteine darbietet.“ Dieſe ungeheuren Maſſen von Felsſpitzen und Abgruͤnden, dieſe kuͤhnen Lagen und ausgebreiteten Ausſichten, dieſe Untermiſchung mit ſo mannigfaltigen Einſiede- leyen bilden hier eine Gegend, die vielleicht auf der ganzen Erdflaͤche nicht feyerlicher und erhabener gefunden wird. 6. Wir ſehen, wie die Natur Gegenden von verſchiedenen Charakteren und Ein- wirkungen bildet. Allein dieſe natuͤrlichen Charaktere koͤnnen noch auf eine man- nigfaltige Weiſe durch die Hand des Menſchen verſtaͤrkt werden. So kann eine muntre Gegend durch eine Schaͤferhuͤtte oder ein Landhaus, eine melancholiſche durch ein Kloſter oder eine Urne, eine romantiſche durch gothiſche Ruinen, eine feyerliche durch Tempel, oder wie wir bey Montſerrat geſehen, durch eine Menge von Ein- ſiedeleyen, ſehr viel an Einwirkung gewinnen. Wenn dieſe Gebaͤude und Monu- mente mit den Gegenden, fuͤr welche ſie ſich ihrer Natur nach ſchicken, in Verbin- dung F f 2

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/241>, abgerufen am 19.04.2024.