Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweyter Abschnitt. Von den verschiedenen Charakteren
4.

Das Romantische oder Bezaubernde in der Landschaft entspringt aus dem
Außerordentlichen und Seltsamen der Formen, der Gegenstellungen und der Ver-
bindungen. Man findet es am meisten in gebirgigen und felsigen Gegenden, in
versperrten Wildnissen, wohin die geschäftige Hand des Menschen noch nicht gedrun-
gen ist. Zur Bildung dieses Charakters tragen Felsen, wie schon oben angeführt
ist, nicht weniger Wasserfälle, vorzüglich bey. Aber außer dem, was hier die Form
bewirkt, wird auch durch starke und auffallende Entgegenstellungen und kühne über-
raschende Zusammensetzungen das Romantische erzeugt. Die Aussichten sind, weil
die Einbildungskraft sich mit nahen Gegenständen beschäftigen soll, hier mehrentheils
verschlossen; sie breiten sich selten vorwärts aus, sondern erheben sich öfter aus der
Tiefe in die Höhe, oder senken sich von der Höhe in die Tiefe herab. Wo die rauhe
finstre Wildniß sich mit einem kleinen stillen Thale voll glänzender Blumen paart,
wo ein Waldstrom am Felsen durch blühende Gesträuche herabschäumt, und das blin-
kende Wasser zwischen den grünen Blättern umherirrt, wo kahle weiße Felsspitzen
mitten über die Oberfläche einer schönen Waldung hervorragen -- da ist ein An-
fang von diesem Charakter.

Die Natur scheint ihn in einer glücklichen Laune mehr hinzuwerfen, als sorg-
fältig auszubilden; es sind kühne, seltsame, abspringende Nebenzüge, die sich ihre
Hand in der Malerey der Landschaft entwischen läßt. Die Wirkungen des Roman-
tischen sind Verwunderung, Ueberraschung, angenehmes Staunen und Versinken
in sich selbst.

Eine Beschreibung einer überaus romantischen Gegend von einem trefflichen
Kenner *) wird diesen Charakter noch deutlicher machen. Diese Gegend ist das be-
rühmte Thal Dowedale in Derbyshire in England. "Das Thal ist zwo Meilen
(engl.) lang, tief und schmal; beyde Seiten bestehen aus Felsen; und die Dowe,
die zwischen ihnen durchfließt, verändert beständig ihren Lauf, ihre Bewegung, ihr
Ansehen. Sie ist nirgends kleiner als dreyßig, und nirgends bis sechzig Fuß breit;
gemeiniglich aber ohngefähr vier Fuß tief; dabey aber durchsichtig bis auf den Bo-
den, ausgenommen wo sie unterhalb den Wasserfällen, die vollkommen helle sind,
mit Schaum von dem reinsten Weiß bedeckt ist. Diese Wasserfälle sind sehr zahl-
reich, aber auch sehr verschieden. An einigen Orten gehen sie gerade, an andern
aber schief über den Fluß; und wieder an andern nehmen sie nur einen Theil von ihm
ein. Das Wasser schlägt entweder gegen die Steine und springt über sie hinweg;

oder
*) Observations on modern Gardening, 4e Edition. S. 111. u. f.
Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren
4.

Das Romantiſche oder Bezaubernde in der Landſchaft entſpringt aus dem
Außerordentlichen und Seltſamen der Formen, der Gegenſtellungen und der Ver-
bindungen. Man findet es am meiſten in gebirgigen und felſigen Gegenden, in
verſperrten Wildniſſen, wohin die geſchaͤftige Hand des Menſchen noch nicht gedrun-
gen iſt. Zur Bildung dieſes Charakters tragen Felſen, wie ſchon oben angefuͤhrt
iſt, nicht weniger Waſſerfaͤlle, vorzuͤglich bey. Aber außer dem, was hier die Form
bewirkt, wird auch durch ſtarke und auffallende Entgegenſtellungen und kuͤhne uͤber-
raſchende Zuſammenſetzungen das Romantiſche erzeugt. Die Ausſichten ſind, weil
die Einbildungskraft ſich mit nahen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigen ſoll, hier mehrentheils
verſchloſſen; ſie breiten ſich ſelten vorwaͤrts aus, ſondern erheben ſich oͤfter aus der
Tiefe in die Hoͤhe, oder ſenken ſich von der Hoͤhe in die Tiefe herab. Wo die rauhe
finſtre Wildniß ſich mit einem kleinen ſtillen Thale voll glaͤnzender Blumen paart,
wo ein Waldſtrom am Felſen durch bluͤhende Geſtraͤuche herabſchaͤumt, und das blin-
kende Waſſer zwiſchen den gruͤnen Blaͤttern umherirrt, wo kahle weiße Felsſpitzen
mitten uͤber die Oberflaͤche einer ſchoͤnen Waldung hervorragen — da iſt ein An-
fang von dieſem Charakter.

Die Natur ſcheint ihn in einer gluͤcklichen Laune mehr hinzuwerfen, als ſorg-
faͤltig auszubilden; es ſind kuͤhne, ſeltſame, abſpringende Nebenzuͤge, die ſich ihre
Hand in der Malerey der Landſchaft entwiſchen laͤßt. Die Wirkungen des Roman-
tiſchen ſind Verwunderung, Ueberraſchung, angenehmes Staunen und Verſinken
in ſich ſelbſt.

Eine Beſchreibung einer uͤberaus romantiſchen Gegend von einem trefflichen
Kenner *) wird dieſen Charakter noch deutlicher machen. Dieſe Gegend iſt das be-
ruͤhmte Thal Dowedale in Derbyſhire in England. „Das Thal iſt zwo Meilen
(engl.) lang, tief und ſchmal; beyde Seiten beſtehen aus Felſen; und die Dowe,
die zwiſchen ihnen durchfließt, veraͤndert beſtaͤndig ihren Lauf, ihre Bewegung, ihr
Anſehen. Sie iſt nirgends kleiner als dreyßig, und nirgends bis ſechzig Fuß breit;
gemeiniglich aber ohngefaͤhr vier Fuß tief; dabey aber durchſichtig bis auf den Bo-
den, ausgenommen wo ſie unterhalb den Waſſerfaͤllen, die vollkommen helle ſind,
mit Schaum von dem reinſten Weiß bedeckt iſt. Dieſe Waſſerfaͤlle ſind ſehr zahl-
reich, aber auch ſehr verſchieden. An einigen Orten gehen ſie gerade, an andern
aber ſchief uͤber den Fluß; und wieder an andern nehmen ſie nur einen Theil von ihm
ein. Das Waſſer ſchlaͤgt entweder gegen die Steine und ſpringt uͤber ſie hinweg;

oder
*) Obſervations on modern Gardening, 4e Edition. S. 111. u. f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <pb facs="#f0228" n="214"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Zweyter Ab&#x017F;chnitt. Von den ver&#x017F;chiedenen Charakteren</hi> </fw><lb/>
          <div n="4">
            <head>4.</head><lb/>
            <p>Das <hi rendition="#fr">Romanti&#x017F;che</hi> oder <hi rendition="#fr">Bezaubernde</hi> in der Land&#x017F;chaft ent&#x017F;pringt aus dem<lb/>
Außerordentlichen und Selt&#x017F;amen der Formen, der Gegen&#x017F;tellungen und der Ver-<lb/>
bindungen. Man findet es am mei&#x017F;ten in gebirgigen und fel&#x017F;igen Gegenden, in<lb/>
ver&#x017F;perrten Wildni&#x017F;&#x017F;en, wohin die ge&#x017F;cha&#x0364;ftige Hand des Men&#x017F;chen noch nicht gedrun-<lb/>
gen i&#x017F;t. Zur Bildung die&#x017F;es Charakters tragen Fel&#x017F;en, wie &#x017F;chon oben angefu&#x0364;hrt<lb/>
i&#x017F;t, nicht weniger Wa&#x017F;&#x017F;erfa&#x0364;lle, vorzu&#x0364;glich bey. Aber außer dem, was hier die Form<lb/>
bewirkt, wird auch durch &#x017F;tarke und auffallende Entgegen&#x017F;tellungen und ku&#x0364;hne u&#x0364;ber-<lb/>
ra&#x017F;chende Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzungen das Romanti&#x017F;che erzeugt. Die Aus&#x017F;ichten &#x017F;ind, weil<lb/>
die Einbildungskraft &#x017F;ich mit nahen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden be&#x017F;cha&#x0364;ftigen &#x017F;oll, hier mehrentheils<lb/>
ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;ie breiten &#x017F;ich &#x017F;elten vorwa&#x0364;rts aus, &#x017F;ondern erheben &#x017F;ich o&#x0364;fter aus der<lb/>
Tiefe in die Ho&#x0364;he, oder &#x017F;enken &#x017F;ich von der Ho&#x0364;he in die Tiefe herab. Wo die rauhe<lb/>
fin&#x017F;tre Wildniß &#x017F;ich mit einem kleinen &#x017F;tillen Thale voll gla&#x0364;nzender Blumen paart,<lb/>
wo ein Wald&#x017F;trom am Fel&#x017F;en durch blu&#x0364;hende Ge&#x017F;tra&#x0364;uche herab&#x017F;cha&#x0364;umt, und das blin-<lb/>
kende Wa&#x017F;&#x017F;er zwi&#x017F;chen den gru&#x0364;nen Bla&#x0364;ttern umherirrt, wo kahle weiße Fels&#x017F;pitzen<lb/>
mitten u&#x0364;ber die Oberfla&#x0364;che einer &#x017F;cho&#x0364;nen Waldung hervorragen &#x2014; da i&#x017F;t ein An-<lb/>
fang von die&#x017F;em Charakter.</p><lb/>
            <p>Die Natur &#x017F;cheint ihn in einer glu&#x0364;cklichen Laune mehr hinzuwerfen, als &#x017F;org-<lb/>
fa&#x0364;ltig auszubilden; es &#x017F;ind ku&#x0364;hne, &#x017F;elt&#x017F;ame, ab&#x017F;pringende Nebenzu&#x0364;ge, die &#x017F;ich ihre<lb/>
Hand in der Malerey der Land&#x017F;chaft entwi&#x017F;chen la&#x0364;ßt. Die Wirkungen des Roman-<lb/>
ti&#x017F;chen &#x017F;ind Verwunderung, Ueberra&#x017F;chung, angenehmes Staunen und Ver&#x017F;inken<lb/>
in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Eine Be&#x017F;chreibung einer u&#x0364;beraus romanti&#x017F;chen Gegend von einem trefflichen<lb/>
Kenner <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Ob&#x017F;ervations on modern Gardening, 4e Edition.</hi> S. 111. u. f.</note> wird die&#x017F;en Charakter noch deutlicher machen. Die&#x017F;e Gegend i&#x017F;t das be-<lb/>
ru&#x0364;hmte Thal <hi rendition="#fr">Dowedale</hi> in <hi rendition="#fr">Derby&#x017F;hire</hi> in <hi rendition="#fr">England.</hi> &#x201E;Das Thal i&#x017F;t zwo Meilen<lb/>
(engl.) lang, tief und &#x017F;chmal; beyde Seiten be&#x017F;tehen aus Fel&#x017F;en; und die <hi rendition="#fr">Dowe,</hi><lb/>
die zwi&#x017F;chen ihnen durchfließt, vera&#x0364;ndert be&#x017F;ta&#x0364;ndig ihren Lauf, ihre Bewegung, ihr<lb/>
An&#x017F;ehen. Sie i&#x017F;t nirgends kleiner als dreyßig, und nirgends bis &#x017F;echzig Fuß breit;<lb/>
gemeiniglich aber ohngefa&#x0364;hr vier Fuß tief; dabey aber durch&#x017F;ichtig bis auf den Bo-<lb/>
den, ausgenommen wo &#x017F;ie unterhalb den Wa&#x017F;&#x017F;erfa&#x0364;llen, die vollkommen helle &#x017F;ind,<lb/>
mit Schaum von dem rein&#x017F;ten Weiß bedeckt i&#x017F;t. Die&#x017F;e Wa&#x017F;&#x017F;erfa&#x0364;lle &#x017F;ind &#x017F;ehr zahl-<lb/>
reich, aber auch &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden. An einigen Orten gehen &#x017F;ie gerade, an andern<lb/>
aber &#x017F;chief u&#x0364;ber den Fluß; und wieder an andern nehmen &#x017F;ie nur einen Theil von ihm<lb/>
ein. Das Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chla&#x0364;gt entweder gegen die Steine und &#x017F;pringt u&#x0364;ber &#x017F;ie hinweg;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0228] Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren 4. Das Romantiſche oder Bezaubernde in der Landſchaft entſpringt aus dem Außerordentlichen und Seltſamen der Formen, der Gegenſtellungen und der Ver- bindungen. Man findet es am meiſten in gebirgigen und felſigen Gegenden, in verſperrten Wildniſſen, wohin die geſchaͤftige Hand des Menſchen noch nicht gedrun- gen iſt. Zur Bildung dieſes Charakters tragen Felſen, wie ſchon oben angefuͤhrt iſt, nicht weniger Waſſerfaͤlle, vorzuͤglich bey. Aber außer dem, was hier die Form bewirkt, wird auch durch ſtarke und auffallende Entgegenſtellungen und kuͤhne uͤber- raſchende Zuſammenſetzungen das Romantiſche erzeugt. Die Ausſichten ſind, weil die Einbildungskraft ſich mit nahen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigen ſoll, hier mehrentheils verſchloſſen; ſie breiten ſich ſelten vorwaͤrts aus, ſondern erheben ſich oͤfter aus der Tiefe in die Hoͤhe, oder ſenken ſich von der Hoͤhe in die Tiefe herab. Wo die rauhe finſtre Wildniß ſich mit einem kleinen ſtillen Thale voll glaͤnzender Blumen paart, wo ein Waldſtrom am Felſen durch bluͤhende Geſtraͤuche herabſchaͤumt, und das blin- kende Waſſer zwiſchen den gruͤnen Blaͤttern umherirrt, wo kahle weiße Felsſpitzen mitten uͤber die Oberflaͤche einer ſchoͤnen Waldung hervorragen — da iſt ein An- fang von dieſem Charakter. Die Natur ſcheint ihn in einer gluͤcklichen Laune mehr hinzuwerfen, als ſorg- faͤltig auszubilden; es ſind kuͤhne, ſeltſame, abſpringende Nebenzuͤge, die ſich ihre Hand in der Malerey der Landſchaft entwiſchen laͤßt. Die Wirkungen des Roman- tiſchen ſind Verwunderung, Ueberraſchung, angenehmes Staunen und Verſinken in ſich ſelbſt. Eine Beſchreibung einer uͤberaus romantiſchen Gegend von einem trefflichen Kenner *) wird dieſen Charakter noch deutlicher machen. Dieſe Gegend iſt das be- ruͤhmte Thal Dowedale in Derbyſhire in England. „Das Thal iſt zwo Meilen (engl.) lang, tief und ſchmal; beyde Seiten beſtehen aus Felſen; und die Dowe, die zwiſchen ihnen durchfließt, veraͤndert beſtaͤndig ihren Lauf, ihre Bewegung, ihr Anſehen. Sie iſt nirgends kleiner als dreyßig, und nirgends bis ſechzig Fuß breit; gemeiniglich aber ohngefaͤhr vier Fuß tief; dabey aber durchſichtig bis auf den Bo- den, ausgenommen wo ſie unterhalb den Waſſerfaͤllen, die vollkommen helle ſind, mit Schaum von dem reinſten Weiß bedeckt iſt. Dieſe Waſſerfaͤlle ſind ſehr zahl- reich, aber auch ſehr verſchieden. An einigen Orten gehen ſie gerade, an andern aber ſchief uͤber den Fluß; und wieder an andern nehmen ſie nur einen Theil von ihm ein. Das Waſſer ſchlaͤgt entweder gegen die Steine und ſpringt uͤber ſie hinweg; oder *) Obſervations on modern Gardening, 4e Edition. S. 111. u. f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/228
Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/228>, abgerufen am 29.03.2024.