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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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Zweyter Abschnitt. Von den verschiedenen Charakteren


Zweyter Abschnitt.
Von den verschiedenen Charakteren der Landschaft
und ihren Wirkungen.

Die Natur, die in allen ihren Werken eine schöne Mannigfaltigkeit und Abände-
rung herrschen läßt, hat auch über die Oberfläche der Erde diesen Reiz ausge-
breitet. Sie hat den Landschaften eine so unendliche Verschiedenheit von Lage und
Bildung eingeprägt, daß zwo ganz gleichförmige Gegenden eine eben so seltene Er-
scheinung seyn würden, als eine vollkommene Uebereinstimmung von zwey Menschen-
gesichtern in Umriß und Zügen.

Nicht so allgemein, als die bloße Wahrnehmung dieser Mannigfaltigkeit, ist
bey den Menschen die Empfindung der Eindrücke, welche die verschiedenen Lagen in
der Landschaft auf die Seele machen. Diese Empfindung kann bey Rohigkeit oder
Unachtsamkeit nicht empordringen. Sie setzt, wenn sie sich äußern soll, einen Grad
von Schärfe und Aufmerksamkeit des äußern Sinnes, eine gewisse Leichtigkeit, die
Bilder aufzufangen und sie zur Berührung oder Erschütterung der Phantasie, zur
Erzeugung der innern Bewegung festzuhalten, eine gewisse Behaglichkeit der Seele
an sanftern Gefühlen der Natur voraus.

So merke man bey einer nicht zu sehr eingeschränkten Reise in den heitern Mo-
naten des Jahres auf sich selbst; man sey ohne Zerstreuung, geneigt, sich den Ein-
drücken der Gegenden, die nach und nach erscheinen, zu eröffnen. Man wird durch
die innere Empfindung von den verschiedenen Kräften der Gegenstände und Lagen der
Landschaft eben so zuverläßig versichert werden, als das Auge die Abwechselung der
Formen und Farben wahrnimmt. Jedes ruhige und aufmerksame Umherwandeln
unter abwechselnden Scenen des Landes wird diese Erfahrung wiederholen.

Der Mensch steht also in einem so nahen Verhältniß mit der Natur, daß er
ihre Einwirkungen auf seine Seele nicht verläugnen kann. Er wird von dem Schö-
nen, Lieblichen, Neuen, Großen und Wunderbaren, das sie ihm aufstellt, zu man-
nigfaltigen Bewegungen hingerissen. Sie hat Gegenden, die bald zur lebhaften
Freude, bald zur ruhigen Ergötzung, bald zur sanften Melancholie, bald zur Ehr-
furcht, Bewunderung und einer feyerlichen Erhebung der Seele, die nahe an die
Andacht gränzt, einladen; aber auch Gegenden, die ein niederschlagendes Gefühl
unsrer Bedürfnisse und Schwäche, Traurigkeit, Furcht, Schauder und Entsetzen

einflößen.
Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren


Zweyter Abſchnitt.
Von den verſchiedenen Charakteren der Landſchaft
und ihren Wirkungen.

Die Natur, die in allen ihren Werken eine ſchoͤne Mannigfaltigkeit und Abaͤnde-
rung herrſchen laͤßt, hat auch uͤber die Oberflaͤche der Erde dieſen Reiz ausge-
breitet. Sie hat den Landſchaften eine ſo unendliche Verſchiedenheit von Lage und
Bildung eingepraͤgt, daß zwo ganz gleichfoͤrmige Gegenden eine eben ſo ſeltene Er-
ſcheinung ſeyn wuͤrden, als eine vollkommene Uebereinſtimmung von zwey Menſchen-
geſichtern in Umriß und Zuͤgen.

Nicht ſo allgemein, als die bloße Wahrnehmung dieſer Mannigfaltigkeit, iſt
bey den Menſchen die Empfindung der Eindruͤcke, welche die verſchiedenen Lagen in
der Landſchaft auf die Seele machen. Dieſe Empfindung kann bey Rohigkeit oder
Unachtſamkeit nicht empordringen. Sie ſetzt, wenn ſie ſich aͤußern ſoll, einen Grad
von Schaͤrfe und Aufmerkſamkeit des aͤußern Sinnes, eine gewiſſe Leichtigkeit, die
Bilder aufzufangen und ſie zur Beruͤhrung oder Erſchuͤtterung der Phantaſie, zur
Erzeugung der innern Bewegung feſtzuhalten, eine gewiſſe Behaglichkeit der Seele
an ſanftern Gefuͤhlen der Natur voraus.

So merke man bey einer nicht zu ſehr eingeſchraͤnkten Reiſe in den heitern Mo-
naten des Jahres auf ſich ſelbſt; man ſey ohne Zerſtreuung, geneigt, ſich den Ein-
druͤcken der Gegenden, die nach und nach erſcheinen, zu eroͤffnen. Man wird durch
die innere Empfindung von den verſchiedenen Kraͤften der Gegenſtaͤnde und Lagen der
Landſchaft eben ſo zuverlaͤßig verſichert werden, als das Auge die Abwechſelung der
Formen und Farben wahrnimmt. Jedes ruhige und aufmerkſame Umherwandeln
unter abwechſelnden Scenen des Landes wird dieſe Erfahrung wiederholen.

Der Menſch ſteht alſo in einem ſo nahen Verhaͤltniß mit der Natur, daß er
ihre Einwirkungen auf ſeine Seele nicht verlaͤugnen kann. Er wird von dem Schoͤ-
nen, Lieblichen, Neuen, Großen und Wunderbaren, das ſie ihm aufſtellt, zu man-
nigfaltigen Bewegungen hingeriſſen. Sie hat Gegenden, die bald zur lebhaften
Freude, bald zur ruhigen Ergoͤtzung, bald zur ſanften Melancholie, bald zur Ehr-
furcht, Bewunderung und einer feyerlichen Erhebung der Seele, die nahe an die
Andacht graͤnzt, einladen; aber auch Gegenden, die ein niederſchlagendes Gefuͤhl
unſrer Beduͤrfniſſe und Schwaͤche, Traurigkeit, Furcht, Schauder und Entſetzen

einfloͤßen.
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[186/0200] Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren der Landſchaft und ihren Wirkungen. Die Natur, die in allen ihren Werken eine ſchoͤne Mannigfaltigkeit und Abaͤnde- rung herrſchen laͤßt, hat auch uͤber die Oberflaͤche der Erde dieſen Reiz ausge- breitet. Sie hat den Landſchaften eine ſo unendliche Verſchiedenheit von Lage und Bildung eingepraͤgt, daß zwo ganz gleichfoͤrmige Gegenden eine eben ſo ſeltene Er- ſcheinung ſeyn wuͤrden, als eine vollkommene Uebereinſtimmung von zwey Menſchen- geſichtern in Umriß und Zuͤgen. Nicht ſo allgemein, als die bloße Wahrnehmung dieſer Mannigfaltigkeit, iſt bey den Menſchen die Empfindung der Eindruͤcke, welche die verſchiedenen Lagen in der Landſchaft auf die Seele machen. Dieſe Empfindung kann bey Rohigkeit oder Unachtſamkeit nicht empordringen. Sie ſetzt, wenn ſie ſich aͤußern ſoll, einen Grad von Schaͤrfe und Aufmerkſamkeit des aͤußern Sinnes, eine gewiſſe Leichtigkeit, die Bilder aufzufangen und ſie zur Beruͤhrung oder Erſchuͤtterung der Phantaſie, zur Erzeugung der innern Bewegung feſtzuhalten, eine gewiſſe Behaglichkeit der Seele an ſanftern Gefuͤhlen der Natur voraus. So merke man bey einer nicht zu ſehr eingeſchraͤnkten Reiſe in den heitern Mo- naten des Jahres auf ſich ſelbſt; man ſey ohne Zerſtreuung, geneigt, ſich den Ein- druͤcken der Gegenden, die nach und nach erſcheinen, zu eroͤffnen. Man wird durch die innere Empfindung von den verſchiedenen Kraͤften der Gegenſtaͤnde und Lagen der Landſchaft eben ſo zuverlaͤßig verſichert werden, als das Auge die Abwechſelung der Formen und Farben wahrnimmt. Jedes ruhige und aufmerkſame Umherwandeln unter abwechſelnden Scenen des Landes wird dieſe Erfahrung wiederholen. Der Menſch ſteht alſo in einem ſo nahen Verhaͤltniß mit der Natur, daß er ihre Einwirkungen auf ſeine Seele nicht verlaͤugnen kann. Er wird von dem Schoͤ- nen, Lieblichen, Neuen, Großen und Wunderbaren, das ſie ihm aufſtellt, zu man- nigfaltigen Bewegungen hingeriſſen. Sie hat Gegenden, die bald zur lebhaften Freude, bald zur ruhigen Ergoͤtzung, bald zur ſanften Melancholie, bald zur Ehr- furcht, Bewunderung und einer feyerlichen Erhebung der Seele, die nahe an die Andacht graͤnzt, einladen; aber auch Gegenden, die ein niederſchlagendes Gefuͤhl unſrer Beduͤrfniſſe und Schwaͤche, Traurigkeit, Furcht, Schauder und Entſetzen einfloͤßen.

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/200>, abgerufen am 28.03.2024.