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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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mathematische Probleme.
Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen
erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren
Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen
Hülfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu be-
werkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel
zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint
mir, daß man sich dieses Hebels meistens -- wenn auch unbe-
wußt -- bedient.

Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter un-
genügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben
und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann
die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter
den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne
nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von
den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse
eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in
einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathe-
matik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen
eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte
schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die
Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten
Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ur-
sprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und
strenge Lösung gefunden haben.

Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen
Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt,
die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens
niemand durch Beweise gestützt hat -- ich meine die Ueberzeugung,
daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen
Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die
Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Un-
möglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Miß-
lingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein
bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der
Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder
die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form 2n + 1
giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so rat-
los wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen -- wir haben dennoch
die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche
Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.

Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems
eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigen-

mathematische Probleme.
Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen
erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren
Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen
Hülfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu be-
werkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel
zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint
mir, daß man sich dieses Hebels meistens — wenn auch unbe-
wußt — bedient.

Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter un-
genügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben
und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann
die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter
den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne
nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von
den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse
eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in
einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathe-
matik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen
eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte
schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die
Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten
Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ur-
sprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und
strenge Lösung gefunden haben.

Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen
Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt,
die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens
niemand durch Beweise gestützt hat — ich meine die Ueberzeugung,
daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen
Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die
Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Un-
möglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Miß-
lingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein
bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der
Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder
die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form 2n + 1
giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so rat-
los wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen — wir haben dennoch
die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche
Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.

Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems
eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigen-

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[261/0017] mathematische Probleme. Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen Hülfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu be- werkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint mir, daß man sich dieses Hebels meistens — wenn auch unbe- wußt — bedient. Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter un- genügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathe- matik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ur- sprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und strenge Lösung gefunden haben. Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt, die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens niemand durch Beweise gestützt hat — ich meine die Ueberzeugung, daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Un- möglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Miß- lingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form 2n + 1 giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so rat- los wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen — wir haben dennoch die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß. Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigen-

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/17>, abgerufen am 28.03.2024.