Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

unmuthig. Da sah er in das Gesicht seines Sohnes,
das von der Sonne hell angeschienen war. Er streckte
die Hand herzlich aus. "Clemens!" rief er, noch zwi¬
schen Ueberraschung und Freude; "du hier!" -- "Ich
hatte Heimweh," sagte der Sohn und drückte warm
die dargebotene Hand. "Ich bleibe über das Fest hier,
Vater, wenn noch Platz ist, seit Marlene unter euerm
Dache ist." -- "Wie du so reden kannst!" fiel die
Mutter eifrig ein. "Und wenn ich sieben Söhne hätte,
ich wollte ihnen Platz schaffen. Aber ich lasse dich
dem Vater; ich will in die Küche, in den Garten;
sie haben dich in der Stadt verwöhnt, du wirst vor¬
lieb nehmen müssen."

Sie war schon hinaus, als Vater und Sohn sich
noch schweigend gegenüber standen. "Ich habe dich
gestört," sagte endlich Clemens. "Du bist in der Pre¬
digt. Sag, ob ich wieder gehen soll." -- "Du störst nur
einen, der sich selber gestört hat. Seit dem Morgen bin
ich herumgegangen, mein Textwort in Gedanken, aber
die Gnade war nicht mit mir und der Keim ging
nicht auf. Es ist mir seltsam gewesen, Schauer über
mir, die ich nicht bezwingen konnte." -- Er trat an
das kleine Fenster, das auf die Kirche sah. Der
Weg zu ihr ging über den Todtenacker. Der lag
still mit Blumen und blinkenden Kreuzen im Mit¬
tagslicht. "Komm heran, Clemens," sagte der Alte
sanft. "Stelle dich neben mich. Siehst du das Grab

unmuthig. Da ſah er in das Geſicht ſeines Sohnes,
das von der Sonne hell angeſchienen war. Er ſtreckte
die Hand herzlich aus. „Clemens!“ rief er, noch zwi¬
ſchen Ueberraſchung und Freude; „du hier!“ — „Ich
hatte Heimweh,“ ſagte der Sohn und drückte warm
die dargebotene Hand. „Ich bleibe über das Feſt hier,
Vater, wenn noch Platz iſt, ſeit Marlene unter euerm
Dache iſt.“ — „Wie du ſo reden kannſt!“ fiel die
Mutter eifrig ein. „Und wenn ich ſieben Söhne hätte,
ich wollte ihnen Platz ſchaffen. Aber ich laſſe dich
dem Vater; ich will in die Küche, in den Garten;
ſie haben dich in der Stadt verwöhnt, du wirſt vor¬
lieb nehmen müſſen.“

Sie war ſchon hinaus, als Vater und Sohn ſich
noch ſchweigend gegenüber ſtanden. „Ich habe dich
geſtört,“ ſagte endlich Clemens. „Du biſt in der Pre¬
digt. Sag, ob ich wieder gehen ſoll.“ — „Du ſtörſt nur
einen, der ſich ſelber geſtört hat. Seit dem Morgen bin
ich herumgegangen, mein Textwort in Gedanken, aber
die Gnade war nicht mit mir und der Keim ging
nicht auf. Es iſt mir ſeltſam geweſen, Schauer über
mir, die ich nicht bezwingen konnte.“ — Er trat an
das kleine Fenſter, das auf die Kirche ſah. Der
Weg zu ihr ging über den Todtenacker. Der lag
ſtill mit Blumen und blinkenden Kreuzen im Mit¬
tagslicht. „Komm heran, Clemens,“ ſagte der Alte
ſanft. „Stelle dich neben mich. Siehſt du das Grab

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="43"/>
unmuthig. Da &#x017F;ah er in das Ge&#x017F;icht &#x017F;eines Sohnes,<lb/>
das von der Sonne hell ange&#x017F;chienen war. Er &#x017F;treckte<lb/>
die Hand herzlich aus. &#x201E;Clemens!&#x201C; rief er, noch zwi¬<lb/>
&#x017F;chen Ueberra&#x017F;chung und Freude; &#x201E;du hier!&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ich<lb/>
hatte Heimweh,&#x201C; &#x017F;agte der Sohn und drückte warm<lb/>
die dargebotene Hand. &#x201E;Ich bleibe über das Fe&#x017F;t hier,<lb/>
Vater, wenn noch Platz i&#x017F;t, &#x017F;eit Marlene unter euerm<lb/>
Dache i&#x017F;t.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Wie du &#x017F;o reden kann&#x017F;t!&#x201C; fiel die<lb/>
Mutter eifrig ein. &#x201E;Und wenn ich &#x017F;ieben Söhne hätte,<lb/>
ich wollte ihnen Platz &#x017F;chaffen. Aber ich la&#x017F;&#x017F;e dich<lb/>
dem Vater; ich will in die Küche, in den Garten;<lb/>
&#x017F;ie haben dich in der Stadt verwöhnt, du wir&#x017F;t vor¬<lb/>
lieb nehmen mü&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie war &#x017F;chon hinaus, als Vater und Sohn &#x017F;ich<lb/>
noch &#x017F;chweigend gegenüber &#x017F;tanden. &#x201E;Ich habe dich<lb/>
ge&#x017F;tört,&#x201C; &#x017F;agte endlich Clemens. &#x201E;Du bi&#x017F;t in der Pre¬<lb/>
digt. Sag, ob ich wieder gehen &#x017F;oll.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Du &#x017F;tör&#x017F;t nur<lb/>
einen, der &#x017F;ich &#x017F;elber ge&#x017F;tört hat. Seit dem Morgen bin<lb/>
ich herumgegangen, mein Textwort in Gedanken, aber<lb/>
die Gnade war nicht mit mir und der Keim ging<lb/>
nicht auf. Es i&#x017F;t mir &#x017F;elt&#x017F;am gewe&#x017F;en, Schauer über<lb/>
mir, die ich nicht bezwingen konnte.&#x201C; &#x2014; Er trat an<lb/>
das kleine Fen&#x017F;ter, das auf die Kirche &#x017F;ah. Der<lb/>
Weg zu ihr ging über den Todtenacker. Der lag<lb/>
&#x017F;till mit Blumen und blinkenden Kreuzen im Mit¬<lb/>
tagslicht. &#x201E;Komm heran, Clemens,&#x201C; &#x017F;agte der Alte<lb/>
&#x017F;anft. &#x201E;Stelle dich neben mich. Sieh&#x017F;t du das Grab<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0055] unmuthig. Da ſah er in das Geſicht ſeines Sohnes, das von der Sonne hell angeſchienen war. Er ſtreckte die Hand herzlich aus. „Clemens!“ rief er, noch zwi¬ ſchen Ueberraſchung und Freude; „du hier!“ — „Ich hatte Heimweh,“ ſagte der Sohn und drückte warm die dargebotene Hand. „Ich bleibe über das Feſt hier, Vater, wenn noch Platz iſt, ſeit Marlene unter euerm Dache iſt.“ — „Wie du ſo reden kannſt!“ fiel die Mutter eifrig ein. „Und wenn ich ſieben Söhne hätte, ich wollte ihnen Platz ſchaffen. Aber ich laſſe dich dem Vater; ich will in die Küche, in den Garten; ſie haben dich in der Stadt verwöhnt, du wirſt vor¬ lieb nehmen müſſen.“ Sie war ſchon hinaus, als Vater und Sohn ſich noch ſchweigend gegenüber ſtanden. „Ich habe dich geſtört,“ ſagte endlich Clemens. „Du biſt in der Pre¬ digt. Sag, ob ich wieder gehen ſoll.“ — „Du ſtörſt nur einen, der ſich ſelber geſtört hat. Seit dem Morgen bin ich herumgegangen, mein Textwort in Gedanken, aber die Gnade war nicht mit mir und der Keim ging nicht auf. Es iſt mir ſeltſam geweſen, Schauer über mir, die ich nicht bezwingen konnte.“ — Er trat an das kleine Fenſter, das auf die Kirche ſah. Der Weg zu ihr ging über den Todtenacker. Der lag ſtill mit Blumen und blinkenden Kreuzen im Mit¬ tagslicht. „Komm heran, Clemens,“ ſagte der Alte ſanft. „Stelle dich neben mich. Siehſt du das Grab

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/55
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/55>, abgerufen am 24.04.2024.