Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Mattigkeit, schmerzlos wie sie ein Genesender
empfindet, nachdem das Fieber ausgetobt hat, breitete
sich über sein Gemüth. Auch die heimliche Reue im
Hintergrund seiner Gedanken trug fast dazu bei, seine
innerliche Helle zu erhöhen, wie der Schatten das
Licht. Er sagte sich, daß noch nichts verscherzt sei,
daß Alles, was er in Verblendung von sich gestoßen,
ihm noch unverändert zugehöre, daß er nur die Hand
auszustrecken habe, um sich seines Besitzes zu freuen.
Habe er sich die Zeit her mit widersinnigen Wünschen
gepeinigt und sich die Freude am Besten verkümmert,
um einem reizenden Schein nachzuhängen, so sei er
an sich selber gestraft.

Die Gestalten beider Mädchen gingen ihm vor¬
über und sein Herz ward keinen Augenblick irre. Noch
ward es ungerecht gegen die Fremde. Ein Staunen
beschlich es noch immer, indem es sich aller Züge des
wunderbaren Gesichts erinnerte. Aber es hüpfte hoch
auf, wie die Zeit des ersten Sehens und Findens,
der wachsenden Neigung zu Marien ihm wieder le¬
bendig wurde. Und was war inzwischen anders ge¬
worden? War sie nicht dieselbe geblieben? Freilich
auch dieselbe an Scheu und Gefühl der Sitte sich
zurückzuhalten vor den Augen Anderer. Aber sie sagte
ihm mit der ganzen gesteigerten Wärme ihres We¬
sens, mit den Augen, die nicht von ihm ließen, wenn
er da war, mit den Händen, die ihn nicht lassen

eine Mattigkeit, ſchmerzlos wie ſie ein Geneſender
empfindet, nachdem das Fieber ausgetobt hat, breitete
ſich über ſein Gemüth. Auch die heimliche Reue im
Hintergrund ſeiner Gedanken trug faſt dazu bei, ſeine
innerliche Helle zu erhöhen, wie der Schatten das
Licht. Er ſagte ſich, daß noch nichts verſcherzt ſei,
daß Alles, was er in Verblendung von ſich geſtoßen,
ihm noch unverändert zugehöre, daß er nur die Hand
auszuſtrecken habe, um ſich ſeines Beſitzes zu freuen.
Habe er ſich die Zeit her mit widerſinnigen Wünſchen
gepeinigt und ſich die Freude am Beſten verkümmert,
um einem reizenden Schein nachzuhängen, ſo ſei er
an ſich ſelber geſtraft.

Die Geſtalten beider Mädchen gingen ihm vor¬
über und ſein Herz ward keinen Augenblick irre. Noch
ward es ungerecht gegen die Fremde. Ein Staunen
beſchlich es noch immer, indem es ſich aller Züge des
wunderbaren Geſichts erinnerte. Aber es hüpfte hoch
auf, wie die Zeit des erſten Sehens und Findens,
der wachſenden Neigung zu Marien ihm wieder le¬
bendig wurde. Und was war inzwiſchen anders ge¬
worden? War ſie nicht dieſelbe geblieben? Freilich
auch dieſelbe an Scheu und Gefühl der Sitte ſich
zurückzuhalten vor den Augen Anderer. Aber ſie ſagte
ihm mit der ganzen geſteigerten Wärme ihres We¬
ſens, mit den Augen, die nicht von ihm ließen, wenn
er da war, mit den Händen, die ihn nicht laſſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0210" n="198"/>
eine Mattigkeit, &#x017F;chmerzlos wie &#x017F;ie ein Gene&#x017F;ender<lb/>
empfindet, nachdem das Fieber ausgetobt hat, breitete<lb/>
&#x017F;ich über &#x017F;ein Gemüth. Auch die heimliche Reue im<lb/>
Hintergrund &#x017F;einer Gedanken trug fa&#x017F;t dazu bei, &#x017F;eine<lb/>
innerliche Helle zu erhöhen, wie der Schatten das<lb/>
Licht. Er &#x017F;agte &#x017F;ich, daß noch nichts ver&#x017F;cherzt &#x017F;ei,<lb/>
daß Alles, was er in Verblendung von &#x017F;ich ge&#x017F;toßen,<lb/>
ihm noch unverändert zugehöre, daß er nur die Hand<lb/>
auszu&#x017F;trecken habe, um &#x017F;ich &#x017F;eines Be&#x017F;itzes zu freuen.<lb/>
Habe er &#x017F;ich die Zeit her mit wider&#x017F;innigen Wün&#x017F;chen<lb/>
gepeinigt und &#x017F;ich die Freude am Be&#x017F;ten verkümmert,<lb/>
um einem reizenden Schein nachzuhängen, &#x017F;o &#x017F;ei er<lb/>
an &#x017F;ich &#x017F;elber ge&#x017F;traft.</p><lb/>
        <p>Die Ge&#x017F;talten beider Mädchen gingen ihm vor¬<lb/>
über und &#x017F;ein Herz ward keinen Augenblick irre. Noch<lb/>
ward es ungerecht gegen die Fremde. Ein Staunen<lb/>
be&#x017F;chlich es noch immer, indem es &#x017F;ich aller Züge des<lb/>
wunderbaren Ge&#x017F;ichts erinnerte. Aber es hüpfte hoch<lb/>
auf, wie die Zeit des er&#x017F;ten Sehens und Findens,<lb/>
der wach&#x017F;enden Neigung zu Marien ihm wieder le¬<lb/>
bendig wurde. Und was war inzwi&#x017F;chen anders ge¬<lb/>
worden? War &#x017F;ie nicht die&#x017F;elbe geblieben? Freilich<lb/>
auch die&#x017F;elbe an Scheu und Gefühl der Sitte &#x017F;ich<lb/>
zurückzuhalten vor den Augen Anderer. Aber &#x017F;ie &#x017F;agte<lb/>
ihm mit der ganzen ge&#x017F;teigerten Wärme ihres We¬<lb/>
&#x017F;ens, mit den Augen, die nicht von ihm ließen, wenn<lb/>
er da war, mit den Händen, die ihn nicht la&#x017F;&#x017F;en<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[198/0210] eine Mattigkeit, ſchmerzlos wie ſie ein Geneſender empfindet, nachdem das Fieber ausgetobt hat, breitete ſich über ſein Gemüth. Auch die heimliche Reue im Hintergrund ſeiner Gedanken trug faſt dazu bei, ſeine innerliche Helle zu erhöhen, wie der Schatten das Licht. Er ſagte ſich, daß noch nichts verſcherzt ſei, daß Alles, was er in Verblendung von ſich geſtoßen, ihm noch unverändert zugehöre, daß er nur die Hand auszuſtrecken habe, um ſich ſeines Beſitzes zu freuen. Habe er ſich die Zeit her mit widerſinnigen Wünſchen gepeinigt und ſich die Freude am Beſten verkümmert, um einem reizenden Schein nachzuhängen, ſo ſei er an ſich ſelber geſtraft. Die Geſtalten beider Mädchen gingen ihm vor¬ über und ſein Herz ward keinen Augenblick irre. Noch ward es ungerecht gegen die Fremde. Ein Staunen beſchlich es noch immer, indem es ſich aller Züge des wunderbaren Geſichts erinnerte. Aber es hüpfte hoch auf, wie die Zeit des erſten Sehens und Findens, der wachſenden Neigung zu Marien ihm wieder le¬ bendig wurde. Und was war inzwiſchen anders ge¬ worden? War ſie nicht dieſelbe geblieben? Freilich auch dieſelbe an Scheu und Gefühl der Sitte ſich zurückzuhalten vor den Augen Anderer. Aber ſie ſagte ihm mit der ganzen geſteigerten Wärme ihres We¬ ſens, mit den Augen, die nicht von ihm ließen, wenn er da war, mit den Händen, die ihn nicht laſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/210
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/210>, abgerufen am 19.04.2024.