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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel
lüftete, um das Eis aufzulegen, sah er die ganze Kraft
der Glieder.

Er schickte den Burschen fort, nachdem er ihn
Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen lassen und
befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er selbst
schob einen Rohrstuhl an den Kamin und ließ sich
nieder, den Mantel umgeschlagen, und bereitete sich
zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde;
draußen über dem öden Platz stand die klare Nacht
und der Strahl des Springbrunns plätscherte leise
in die Muschel des Tritonen. Aus einem nahen
Hause hörte er eine Mädchenstimme singen:

Chi sa se mai
Ti soverrai di me!

den Refrain eines alten schmerzlichen Liedes. Bald
schwieg auch das und summte wortlos in ihm nach.

Er sah sich wieder am Rande der Schlucht von
Tivoli, auf dem Fußweg den Wassern gegenüber, die
in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬
gen niederstürzten. Sie gingen, ohne sich zu führen,
neben einander, er, das schöne Mädchen und ihre be¬
wegliche kleine Begleiterin, die unablässig über den
mühevollen abschüssigen Weg eiferte. Wir hätten mit
Euern Eltern zurückgehn sollen, Mary, sagte sie mehr
als einmal auf Englisch; ja, wir sollten es noch. Da
sind sie noch, Kind, droben über der Cascade, seht

ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel
lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft
der Glieder.

Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn
Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und
befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt
ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich
nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich
zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde;
draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht
und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe
in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen
Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen:

Chi sa se mai
Ti soverrai di me!

den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald
ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach.

Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von
Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die
in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬
gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen,
neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬
wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den
mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit
Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr
als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da
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[138/0150] ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft der Glieder. Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde; draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen: Chi sa se mai Ti soverrai di me! den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach. Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬ gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen, neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬ wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da ſind ſie noch, Kind, droben über der Cascade, ſeht

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/150>, abgerufen am 23.04.2024.