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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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man sie euphemistisch bezeichnet hat, "psychologischen" Behand-
lung von Fragen, die, wenn sie überhaupt mit Erfolg erörtert
werden sollen, physiologisch untersucht werden müssen. Es zieht
sich durch die moderne Sinnenphysiologie in ähnlicher Weise ein
verhängnißvolles Vorurtheil, wie früher durch die Physiologie
überhaupt. Wie man nämlich einst alles, was man nicht physio-
logisch untersuchen konnte oder wollte, aus einer Lebenskraft
erklärte, so erscheint jetzt auf jedem dritten Blatte einer physio-
logischen Optik die "Seele" oder der "Geist", das "Urtheil", oder
der "Schluß" als deus ex machina, um über alle Schwierigkeiten
hinweg zu helfen. Wie es ferner in der That noch unzäh-
lige Lebenserscheinungen gibt, die früher, und zwar selbstver-
ständlich ganz überflüssiger Weise, wenn auch zuweilen recht
scharfsinnig, aus der Lebenskraft erklärt worden sind, und die
wir uns auch heute noch mit unserer ganzen Physik und Chemie
nicht annähernd klar machen können, so gibt es auch noch zahl-
lose Sinnesphänomene, die wir für jetzt einer eigentlich physio-
logischen Untersuchung noch nicht unterwerfen können, und
diese sind für die spiritualistische Physiologie ein sehr dankbares
Gebiet, das ihr vorerst Niemand streitig machen wird. Daß aber
auch zahlreiche Erscheinungen, die schon jetzt eine physiolo-
gische Untersuchung zulassen, noch immer mit psychologischen
Gemeinplätzen abgethan werden, ist wohl zu bedauern.

Im Gegensatze zu dieser spiritualistischen Richtung, welche
sich begnügt, die Gesetze der Sinneserscheinungen, so weit sie
nicht bereits physiologisch erklärt sind, aus der Eigenthümlichkeit
des menschlichen Geistes abzuleiten, habe ich mich von Anfang
an auf den physiologischen Boden gestellt und mich bemüht, die
Phänomene des Bewußtseins als bedingt und getragen von or-
ganischen Processen anzusehen und Verlauf und Verknüpfung
der ersteren aus dem Ablauf der letzteren zu erläutern, soweit
dies eben bis jetzt überhaupt möglich ist. Es ist nicht meine
Absicht, hier den tief greifenden Unterschied ausführlicher dar-
zulegen, welcher zwischen meiner Auffassung, sowie meiner Art,
die Probleme der Sinnenphysiologie zu behandeln, und jener jetzt
vorwaltenden spiritualistischen Ansicht und ihrer Methode besteht.

Dieser Unterschied wird dem aufmerksamen Leser schon in
der vorliegenden kleinen Abhandlung, noch mehr aber in den fol-

man sie euphemistisch bezeichnet hat, „psychologischen“ Behand-
lung von Fragen, die, wenn sie überhaupt mit Erfolg erörtert
werden sollen, physiologisch untersucht werden müssen. Es zieht
sich durch die moderne Sinnenphysiologie in ähnlicher Weise ein
verhängnißvolles Vorurtheil, wie früher durch die Physiologie
überhaupt. Wie man nämlich einst alles, was man nicht physio-
logisch untersuchen konnte oder wollte, aus einer Lebenskraft
erklärte, so erscheint jetzt auf jedem dritten Blatte einer physio-
logischen Optik die „Seele“ oder der „Geist“, das „Urtheil“, oder
der „Schluß“ als deus ex machina, um über alle Schwierigkeiten
hinweg zu helfen. Wie es ferner in der That noch unzäh-
lige Lebenserscheinungen gibt, die früher, und zwar selbstver-
ständlich ganz überflüssiger Weise, wenn auch zuweilen recht
scharfsinnig, aus der Lebenskraft erklärt worden sind, und die
wir uns auch heute noch mit unserer ganzen Physik und Chemie
nicht annähernd klar machen können, so gibt es auch noch zahl-
lose Sinnesphänomene, die wir für jetzt einer eigentlich physio-
logischen Untersuchung noch nicht unterwerfen können, und
diese sind für die spiritualistische Physiologie ein sehr dankbares
Gebiet, das ihr vorerst Niemand streitig machen wird. Daß aber
auch zahlreiche Erscheinungen, die schon jetzt eine physiolo-
gische Untersuchung zulassen, noch immer mit psychologischen
Gemeinplätzen abgethan werden, ist wohl zu bedauern.

Im Gegensatze zu dieser spiritualistischen Richtung, welche
sich begnügt, die Gesetze der Sinneserscheinungen, so weit sie
nicht bereits physiologisch erklärt sind, aus der Eigenthümlichkeit
des menschlichen Geistes abzuleiten, habe ich mich von Anfang
an auf den physiologischen Boden gestellt und mich bemüht, die
Phänomene des Bewußtseins als bedingt und getragen von or-
ganischen Processen anzusehen und Verlauf und Verknüpfung
der ersteren aus dem Ablauf der letzteren zu erläutern, soweit
dies eben bis jetzt überhaupt möglich ist. Es ist nicht meine
Absicht, hier den tief greifenden Unterschied ausführlicher dar-
zulegen, welcher zwischen meiner Auffassung, sowie meiner Art,
die Probleme der Sinnenphysiologie zu behandeln, und jener jetzt
vorwaltenden spiritualistischen Ansicht und ihrer Methode besteht.

Dieser Unterschied wird dem aufmerksamen Leser schon in
der vorliegenden kleinen Abhandlung, noch mehr aber in den fol-

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[2/0010] man sie euphemistisch bezeichnet hat, „psychologischen“ Behand- lung von Fragen, die, wenn sie überhaupt mit Erfolg erörtert werden sollen, physiologisch untersucht werden müssen. Es zieht sich durch die moderne Sinnenphysiologie in ähnlicher Weise ein verhängnißvolles Vorurtheil, wie früher durch die Physiologie überhaupt. Wie man nämlich einst alles, was man nicht physio- logisch untersuchen konnte oder wollte, aus einer Lebenskraft erklärte, so erscheint jetzt auf jedem dritten Blatte einer physio- logischen Optik die „Seele“ oder der „Geist“, das „Urtheil“, oder der „Schluß“ als deus ex machina, um über alle Schwierigkeiten hinweg zu helfen. Wie es ferner in der That noch unzäh- lige Lebenserscheinungen gibt, die früher, und zwar selbstver- ständlich ganz überflüssiger Weise, wenn auch zuweilen recht scharfsinnig, aus der Lebenskraft erklärt worden sind, und die wir uns auch heute noch mit unserer ganzen Physik und Chemie nicht annähernd klar machen können, so gibt es auch noch zahl- lose Sinnesphänomene, die wir für jetzt einer eigentlich physio- logischen Untersuchung noch nicht unterwerfen können, und diese sind für die spiritualistische Physiologie ein sehr dankbares Gebiet, das ihr vorerst Niemand streitig machen wird. Daß aber auch zahlreiche Erscheinungen, die schon jetzt eine physiolo- gische Untersuchung zulassen, noch immer mit psychologischen Gemeinplätzen abgethan werden, ist wohl zu bedauern. Im Gegensatze zu dieser spiritualistischen Richtung, welche sich begnügt, die Gesetze der Sinneserscheinungen, so weit sie nicht bereits physiologisch erklärt sind, aus der Eigenthümlichkeit des menschlichen Geistes abzuleiten, habe ich mich von Anfang an auf den physiologischen Boden gestellt und mich bemüht, die Phänomene des Bewußtseins als bedingt und getragen von or- ganischen Processen anzusehen und Verlauf und Verknüpfung der ersteren aus dem Ablauf der letzteren zu erläutern, soweit dies eben bis jetzt überhaupt möglich ist. Es ist nicht meine Absicht, hier den tief greifenden Unterschied ausführlicher dar- zulegen, welcher zwischen meiner Auffassung, sowie meiner Art, die Probleme der Sinnenphysiologie zu behandeln, und jener jetzt vorwaltenden spiritualistischen Ansicht und ihrer Methode besteht. Dieser Unterschied wird dem aufmerksamen Leser schon in der vorliegenden kleinen Abhandlung, noch mehr aber in den fol-

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/10>, abgerufen am 28.03.2024.