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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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So romantisch und zu philosophisch dieser Be-
richt scheint: so wird er doch im Grunde von An-
dern bestärkt, die nicht durch Diderots Auge sahen.
Der blinde Saunderson wuste, Trotz seiner Ma-
thematik, sich von Bildern auf der Fläche keinen
Begriff zu machen, sie wurden ihm nur durch
Maschienen begreiflich. Mit solchen rechnete er
statt Zahlen: Linie und Figuren der Geometrie
ersetzte er sich durch fühlbare Körper. Selbst die
Sonnenstralen wurden in seiner Optik ihm feine
fühlbare Stäbe; und bei dem Bilde, was sie
machten, was durch sie auf einer Fläche sichtbar
ward, dachte er nichts, er nahms als den Hülfs-
begriff eines fremden Sinnes, einer andern Welt
an. Das Schwerste der Geometrie, das Ganze
der Körper, ward ihm in der Demonstration leicht;
was Sehenden das Leichteste und Anschaulichste
ist, Figuren auf der Fläche, ward ihm das Müh-
samste: er muste auf fremde ungefühlte Begriffe
bauen, muste zu Sehenden reden als wären sie
Blinde. Sich den Würfel als sechs zusammen-
schlagende Pyramiden zu denken, war ihm leicht;
sich ein Achteck auf der Fläche vorzustellen, ward
ihm nur durch ein körperliches Achteck möglich.

Am merkbarsten ward dieser Unterschied zwi-
schen Gesicht und Gefühl, Flächen- und Körper-
begriffen an dem Blinden, dem Cheselden das
Gesicht gab. Schon in seiner reifen Staarblind-

heit

So romantiſch und zu philoſophiſch dieſer Be-
richt ſcheint: ſo wird er doch im Grunde von An-
dern beſtaͤrkt, die nicht durch Diderots Auge ſahen.
Der blinde Saunderſon wuſte, Trotz ſeiner Ma-
thematik, ſich von Bildern auf der Flaͤche keinen
Begriff zu machen, ſie wurden ihm nur durch
Maſchienen begreiflich. Mit ſolchen rechnete er
ſtatt Zahlen: Linie und Figuren der Geometrie
erſetzte er ſich durch fuͤhlbare Koͤrper. Selbſt die
Sonnenſtralen wurden in ſeiner Optik ihm feine
fuͤhlbare Staͤbe; und bei dem Bilde, was ſie
machten, was durch ſie auf einer Flaͤche ſichtbar
ward, dachte er nichts, er nahms als den Huͤlfs-
begriff eines fremden Sinnes, einer andern Welt
an. Das Schwerſte der Geometrie, das Ganze
der Koͤrper, ward ihm in der Demonſtration leicht;
was Sehenden das Leichteſte und Anſchaulichſte
iſt, Figuren auf der Flaͤche, ward ihm das Muͤh-
ſamſte: er muſte auf fremde ungefuͤhlte Begriffe
bauen, muſte zu Sehenden reden als waͤren ſie
Blinde. Sich den Wuͤrfel als ſechs zuſammen-
ſchlagende Pyramiden zu denken, war ihm leicht;
ſich ein Achteck auf der Flaͤche vorzuſtellen, ward
ihm nur durch ein koͤrperliches Achteck moͤglich.

Am merkbarſten ward dieſer Unterſchied zwi-
ſchen Geſicht und Gefuͤhl, Flaͤchen- und Koͤrper-
begriffen an dem Blinden, dem Cheſelden das
Geſicht gab. Schon in ſeiner reifen Staarblind-

heit
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[6/0009] So romantiſch und zu philoſophiſch dieſer Be- richt ſcheint: ſo wird er doch im Grunde von An- dern beſtaͤrkt, die nicht durch Diderots Auge ſahen. Der blinde Saunderſon wuſte, Trotz ſeiner Ma- thematik, ſich von Bildern auf der Flaͤche keinen Begriff zu machen, ſie wurden ihm nur durch Maſchienen begreiflich. Mit ſolchen rechnete er ſtatt Zahlen: Linie und Figuren der Geometrie erſetzte er ſich durch fuͤhlbare Koͤrper. Selbſt die Sonnenſtralen wurden in ſeiner Optik ihm feine fuͤhlbare Staͤbe; und bei dem Bilde, was ſie machten, was durch ſie auf einer Flaͤche ſichtbar ward, dachte er nichts, er nahms als den Huͤlfs- begriff eines fremden Sinnes, einer andern Welt an. Das Schwerſte der Geometrie, das Ganze der Koͤrper, ward ihm in der Demonſtration leicht; was Sehenden das Leichteſte und Anſchaulichſte iſt, Figuren auf der Flaͤche, ward ihm das Muͤh- ſamſte: er muſte auf fremde ungefuͤhlte Begriffe bauen, muſte zu Sehenden reden als waͤren ſie Blinde. Sich den Wuͤrfel als ſechs zuſammen- ſchlagende Pyramiden zu denken, war ihm leicht; ſich ein Achteck auf der Flaͤche vorzuſtellen, ward ihm nur durch ein koͤrperliches Achteck moͤglich. Am merkbarſten ward dieſer Unterſchied zwi- ſchen Geſicht und Gefuͤhl, Flaͤchen- und Koͤrper- begriffen an dem Blinden, dem Cheſelden das Geſicht gab. Schon in ſeiner reifen Staarblind- heit

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/9>, abgerufen am 29.03.2024.