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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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nicht thun? Warum müste sie den Vorzug ihres
Sinnes dem Mangel eines fremden Sinnes auf-
opfern, mit dem sie nichts gemein hat? Würde
unter den Händen des Bildners ein Kleid das,
was es unter ihren Händen, unter dem Zauber-
finger des Lichts ist, so wäre er Thor, wenn ers
nicht brauchte.

Es sind also ungemein feine Köpfe, die der
Mahlerei die nackten Fleischmassen und wohl gar
die nassen Gewänder anrathen, weil sie damit
ihrer ältern lieben Schwester, Bildhauerkunst,
näher komme, und wohl gar antikisch würde.
Nackt und steif und häßlich kann sie freilich damit
werden, ohne ein Gutes zu erbeuten, was ihre
ältere Schwester mit Naktheit und Nässe erreichet.
Das Bedürfniß einer fremden Kunst zum Wesen
der Seinigen zu machen und darüber die Vor-
theile der Seinigen verlieren -- so etwas kommt
meistens aus dem lieben Modeln und Vergleichen.
Jüngste Gerichte voll Fleisch, wie Heu; und
Dianenbäder wie Fleischmärkte! Nichts ist lä-
cherlicher, als Statuen aufs Brett zu kleben,
und da Kleider gar zu netzen, wo alles blühn
und duften soll.

"Aber die alten großen Mahler ahmten doch
"Bildsäulen nach: von Raphael hat man ja so
"manche Mährchen, daß er" -- das ahmten

sie

nicht thun? Warum muͤſte ſie den Vorzug ihres
Sinnes dem Mangel eines fremden Sinnes auf-
opfern, mit dem ſie nichts gemein hat? Wuͤrde
unter den Haͤnden des Bildners ein Kleid das,
was es unter ihren Haͤnden, unter dem Zauber-
finger des Lichts iſt, ſo waͤre er Thor, wenn ers
nicht brauchte.

Es ſind alſo ungemein feine Koͤpfe, die der
Mahlerei die nackten Fleiſchmaſſen und wohl gar
die naſſen Gewaͤnder anrathen, weil ſie damit
ihrer aͤltern lieben Schweſter, Bildhauerkunſt,
naͤher komme, und wohl gar antikiſch wuͤrde.
Nackt und ſteif und haͤßlich kann ſie freilich damit
werden, ohne ein Gutes zu erbeuten, was ihre
aͤltere Schweſter mit Naktheit und Naͤſſe erreichet.
Das Beduͤrfniß einer fremden Kunſt zum Weſen
der Seinigen zu machen und daruͤber die Vor-
theile der Seinigen verlieren — ſo etwas kommt
meiſtens aus dem lieben Modeln und Vergleichen.
Juͤngſte Gerichte voll Fleiſch, wie Heu; und
Dianenbaͤder wie Fleiſchmaͤrkte! Nichts iſt laͤ-
cherlicher, als Statuen aufs Brett zu kleben,
und da Kleider gar zu netzen, wo alles bluͤhn
und duften ſoll.

„Aber die alten großen Mahler ahmten doch
„Bildſaͤulen nach: von Raphael hat man ja ſo
„manche Maͤhrchen, daß er„ — das ahmten

ſie
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[38/0041] nicht thun? Warum muͤſte ſie den Vorzug ihres Sinnes dem Mangel eines fremden Sinnes auf- opfern, mit dem ſie nichts gemein hat? Wuͤrde unter den Haͤnden des Bildners ein Kleid das, was es unter ihren Haͤnden, unter dem Zauber- finger des Lichts iſt, ſo waͤre er Thor, wenn ers nicht brauchte. Es ſind alſo ungemein feine Koͤpfe, die der Mahlerei die nackten Fleiſchmaſſen und wohl gar die naſſen Gewaͤnder anrathen, weil ſie damit ihrer aͤltern lieben Schweſter, Bildhauerkunſt, naͤher komme, und wohl gar antikiſch wuͤrde. Nackt und ſteif und haͤßlich kann ſie freilich damit werden, ohne ein Gutes zu erbeuten, was ihre aͤltere Schweſter mit Naktheit und Naͤſſe erreichet. Das Beduͤrfniß einer fremden Kunſt zum Weſen der Seinigen zu machen und daruͤber die Vor- theile der Seinigen verlieren — ſo etwas kommt meiſtens aus dem lieben Modeln und Vergleichen. Juͤngſte Gerichte voll Fleiſch, wie Heu; und Dianenbaͤder wie Fleiſchmaͤrkte! Nichts iſt laͤ- cherlicher, als Statuen aufs Brett zu kleben, und da Kleider gar zu netzen, wo alles bluͤhn und duften ſoll. „Aber die alten großen Mahler ahmten doch „Bildſaͤulen nach: von Raphael hat man ja ſo „manche Maͤhrchen, daß er„ — das ahmten ſie

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/41>, abgerufen am 29.03.2024.