Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ältern Schwester künstlich-gearbeitete Töne
nach.

Je mehr die Philosophie aufkam, je
mehr man die Natur der Dinge, inson-
derheit des Menschengeschlechts und seiner
Verfassungen untersuchte: desto weiter ent-
fernte man sich von jener alten Einfalt
moralischer Sprüche, denen die Poesie
einst Glanz und Nachdruck geben konnte.
Philosophische Unterredungen und Systeme
konnte der Dichter nicht mit derselben Kraft
wie alte Begebenheiten und sinnliche Ge-
genstände darstellen; er war hier in einem
fremden Lande.

Auch die Mythologie selbst, die der
Poesie einst so viel Schwung gegeben hatte,
ward mit der Zeit eine alte Sage. Der
kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt
an Götter und Heroen war dahin; was tau-
sendfach gesungen war, mußte zuletzt bloß dem

aͤltern Schweſter kuͤnſtlich-gearbeitete Toͤne
nach.

Je mehr die Philoſophie aufkam, je
mehr man die Natur der Dinge, inſon-
derheit des Menſchengeſchlechts und ſeiner
Verfaſſungen unterſuchte: deſto weiter ent-
fernte man ſich von jener alten Einfalt
moraliſcher Spruͤche, denen die Poeſie
einſt Glanz und Nachdruck geben konnte.
Philoſophiſche Unterredungen und Syſteme
konnte der Dichter nicht mit derſelben Kraft
wie alte Begebenheiten und ſinnliche Ge-
genſtaͤnde darſtellen; er war hier in einem
fremden Lande.

Auch die Mythologie ſelbſt, die der
Poeſie einſt ſo viel Schwung gegeben hatte,
ward mit der Zeit eine alte Sage. Der
kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt
an Goͤtter und Heroën war dahin; was tau-
ſendfach geſungen war, mußte zuletzt bloß dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="8"/>
a&#x0364;ltern Schwe&#x017F;ter ku&#x0364;n&#x017F;tlich-gearbeitete To&#x0364;ne<lb/>
nach.</p><lb/>
        <p>Je mehr die Philo&#x017F;ophie aufkam, je<lb/>
mehr man die Natur der Dinge, in&#x017F;on-<lb/>
derheit des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts und &#x017F;einer<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungen unter&#x017F;uchte: de&#x017F;to weiter ent-<lb/>
fernte man &#x017F;ich von jener alten Einfalt<lb/><hi rendition="#g">morali&#x017F;cher Spru&#x0364;che</hi>, denen die Poe&#x017F;ie<lb/>
ein&#x017F;t Glanz und Nachdruck geben konnte.<lb/>
Philo&#x017F;ophi&#x017F;che Unterredungen und Sy&#x017F;teme<lb/>
konnte der Dichter nicht mit der&#x017F;elben Kraft<lb/>
wie alte Begebenheiten und &#x017F;innliche Ge-<lb/>
gen&#x017F;ta&#x0364;nde dar&#x017F;tellen; er war hier in einem<lb/>
fremden Lande.</p><lb/>
        <p>Auch die Mythologie &#x017F;elb&#x017F;t, die der<lb/>
Poe&#x017F;ie ein&#x017F;t &#x017F;o viel Schwung gegeben hatte,<lb/>
ward mit der Zeit eine alte Sage. Der<lb/>
kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt<lb/>
an Go&#x0364;tter und Heroën war dahin; was tau-<lb/>
&#x017F;endfach ge&#x017F;ungen war, mußte zuletzt bloß dem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0025] aͤltern Schweſter kuͤnſtlich-gearbeitete Toͤne nach. Je mehr die Philoſophie aufkam, je mehr man die Natur der Dinge, inſon- derheit des Menſchengeſchlechts und ſeiner Verfaſſungen unterſuchte: deſto weiter ent- fernte man ſich von jener alten Einfalt moraliſcher Spruͤche, denen die Poeſie einſt Glanz und Nachdruck geben konnte. Philoſophiſche Unterredungen und Syſteme konnte der Dichter nicht mit derſelben Kraft wie alte Begebenheiten und ſinnliche Ge- genſtaͤnde darſtellen; er war hier in einem fremden Lande. Auch die Mythologie ſelbſt, die der Poeſie einſt ſo viel Schwung gegeben hatte, ward mit der Zeit eine alte Sage. Der kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt an Goͤtter und Heroën war dahin; was tau- ſendfach geſungen war, mußte zuletzt bloß dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/25
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/25>, abgerufen am 29.03.2024.