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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795.

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erfassen, hatte sie sich auf vielseitigen,
mühsamen Wegen, über schroffen Felsen,
durch tiefe Abgründe, mit manchen Ueber-
treibungen und Härten unabläßig bestre-
bet, bis dann selbst diese übertreibende Mü-
he, die die Wahrheit um so schärfer ver-
folgte, nicht anders als zum Gipfel der
Kunst führte. In allen Menschenaltern
und jeder ihrer merkwürdigsten Situatio-
nen in beiden Geschlechtern hatte sie die
Blüthe des Lebens gewonnen, die auf
solchem Stamme blühet; denn die Grie-
chen besaßen noch Einfalt des Geistes,
Reinheit des Blickes, Muth und Kraft
gnug, diese als eine vollständige,
durch sich bestehende Idee in ihren
Werken darzustellen und zu vollenden. Im
Kinde dachten und bildeten sie die Kind-
heit, im Jünglinge den Frühling des Le-
bens, im Manne den Göttersohn voll

erfaſſen, hatte ſie ſich auf vielſeitigen,
muͤhſamen Wegen, uͤber ſchroffen Felſen,
durch tiefe Abgruͤnde, mit manchen Ueber-
treibungen und Haͤrten unablaͤßig beſtre-
bet, bis dann ſelbſt dieſe uͤbertreibende Muͤ-
he, die die Wahrheit um ſo ſchaͤrfer ver-
folgte, nicht anders als zum Gipfel der
Kunſt fuͤhrte. In allen Menſchenaltern
und jeder ihrer merkwuͤrdigſten Situatio-
nen in beiden Geſchlechtern hatte ſie die
Bluͤthe des Lebens gewonnen, die auf
ſolchem Stamme bluͤhet; denn die Grie-
chen beſaßen noch Einfalt des Geiſtes,
Reinheit des Blickes, Muth und Kraft
gnug, dieſe als eine vollſtaͤndige,
durch ſich beſtehende Idee in ihren
Werken darzuſtellen und zu vollenden. Im
Kinde dachten und bildeten ſie die Kind-
heit, im Juͤnglinge den Fruͤhling des Le-
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[28/0043] erfaſſen, hatte ſie ſich auf vielſeitigen, muͤhſamen Wegen, uͤber ſchroffen Felſen, durch tiefe Abgruͤnde, mit manchen Ueber- treibungen und Haͤrten unablaͤßig beſtre- bet, bis dann ſelbſt dieſe uͤbertreibende Muͤ- he, die die Wahrheit um ſo ſchaͤrfer ver- folgte, nicht anders als zum Gipfel der Kunſt fuͤhrte. In allen Menſchenaltern und jeder ihrer merkwuͤrdigſten Situatio- nen in beiden Geſchlechtern hatte ſie die Bluͤthe des Lebens gewonnen, die auf ſolchem Stamme bluͤhet; denn die Grie- chen beſaßen noch Einfalt des Geiſtes, Reinheit des Blickes, Muth und Kraft gnug, dieſe als eine vollſtaͤndige, durch ſich beſtehende Idee in ihren Werken darzuſtellen und zu vollenden. Im Kinde dachten und bildeten ſie die Kind- heit, im Juͤnglinge den Fruͤhling des Le- bens, im Manne den Goͤtterſohn voll

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/43>, abgerufen am 19.04.2024.